Zwei Nullrunden und eine Zugfahrt

„Schneestürmchen und Glühweinwürmchen“ kam gestern heraus und ging sofort durch die Decke. Nummer Eins in Gay Romance und Top 50 insgesamt! Ich bin sehr, sehr stolz auf uns. 🙂 Und morgen, auf der BuchBerlin, werde ich endlich den Print in den Händen halten. Und mir Autogramme von meinen Mit-Autorinnen holen!

Zwei Tage lang habe ich leider gar nichts geschrieben, weil ein größerer Illu-Auftrag fertig werden musste. Ist er jetzt auch, größtenteils. Dafür habe ich gestern im Zug nach Berlin viel geschafft. Sie haben sich endlich geküsst! Und nun geht das Drama weiter, wobei, so dramatisch ist das alles gar nicht. Das ist eine gemütliche Geschichte. 🙂

Wordcount heute: 3.809 Wörter
Wordcount „Josh“ insgesamt: 45.036 Wörter

Lieblingsstelle:
Weich
, dachte er. Gut. Heiße Lippen knabberten und zupften an seinen, so vorsichtig, so drängend, dass ihm schwindlig wurde. Schließlich kapierte er, dass er ihnen entgegenkommen musste, wenn er mehr wollte. Er lehnte sich in den Kuss, presste seinen Mund auf Luciens und öffnete beide ein wenig weiter. Da war sie. Eine nasse Spitze, die seine Unterlippe streifte. Schauer rannen durch seine Bauchgegend.
Dann war es wieder vorbei. Schwer atmend zog Lucien sich zurück. Er wandte sich ab, drehte sich um, sah Josh an und gleich darauf zu Boden.
»Worum machst du dir Sorgen, du Vollidiot?«, platzte Josh heraus. »Du küsst super!«

Es geht looos!!!

40.000 Wörter, 24 Kapitel und … der erste Kuss bahnt sich endlich an. Den hab ich mir allerdings bis morgen aufgehoben, um motiviert zu bleiben. Man soll aufhören, wenn’s am schönsten ist (okay, in Wahrheit musste ich los, bevor Aldi zumacht).

Wordcount heute: 5.269 Wörter
Wordcount „Josh“ insgesamt: 41.226 Wörter

Lieblingsstelle:
»So.« Josh setzte sich vor ihn und schenkte ihm sein bestes Lausbubengrinsen. »Stell dir vor, ich bin Torben und wir sind auf einem Date. Was sagst du?«
Nervosität krallte sich in Luciens Körper, kaum, dass Josh es ausgesprochen hatte. Wie albern. Trotzdem war sein Kopf wie leergefegt. Was sollte er sagen?
»Also.« Er knetete die Hände zwischen den Knien. »Torben.«
»Holst du dir gerade einen runter?«, fragte Josh neugierig.
»Was?!«
»Du bewegst deine Hände unter der Tischplatte«, sagte Josh vorwurfsvoll. »Was soll Torben denn da denken?«
»Dass ich …« Lucien knurrte leise und legte die Hände auf den Tisch. »Das wird er nicht denken.«
»Wer weiß?« Josh wiegte den Kopf hin und her. »Vielleicht hat Torben eine schmutzige Fantasie.«
»Hat er nicht!«
»Woher willst du das wissen?«
»Er arbeitet bei einer Versicherung. Der hat gar keine Fantasie.«

Endlich eine Entwicklung

So, die beiden Chaoten sind jetzt Freunde. Freunde, die nicht begriffen haben, dass es zwischen ihnen ziemlich heftig knistert, aber na ja, kann passieren. 🙂 Und ich bin mehr oder weniger in der Mitte des Buches. Ich habe tatsächlich gemerkt, dass ich zu sehr hetze und beschlossen, mal für zwei Kapitel das Tempo zu drosseln. Hoffentlich springen da nicht alle Leser ab, weil es zu langweilig ist. Aber ich würde ganz gern mal stehenbleiben und schauen, was die anderen Winter-Geschwister so machen, bevor die Achterbahn wieder Fahrt aufnimmt.

Wordcount heute:  2.959 Wörter (bisher)
Wordcount „Josh“ insgesamt: 21.704 Wörter

Lieblingsstelle:
»Gar nicht. Das hab ich nur so gesagt. Dachte, es könnte stimmen, so, wie der sich immer aufspielen muss.« Lucien genehmigte sich ein zufriedenes Lächeln.
Josh starrte ihn an, als wäre er der wiedergeborene Heiland. »Du bist der größte Lügner der Welt«, flüsterte er. »Genial.«
Es fühlte sich an wie eine Eisdusche. »Ja.« Die Schatten wirkten auf einmal dunkler. »So genial ist das nicht.«
»Warum nicht?« Josh strahlte. »Ich wünschte, ich könnte das.«
»Tu das nicht. Man verliert sich darin.« Die Pausenglocke schrillte. Die erste. Sie blieben sitzen.
»Ja, aber wenn es gegen Dean hilft …« Josh dachte sichtbar nach. »Wenn der nicht denkt, dass ich schwul bin, warum gibt es dann diese Wette?«
Lucien zuckte zusammen. Oh. Die. »Welche Wette?«, fragte er, obwohl er gerade noch etwas von Ehrlichkeit gesülzt hatte.

Grobe Missverständnisse

Die letzten Tage sahen so aus: Stundenlang an dem großen, geheimen Auftrag arbeiten und dann zur Entspannung eine Stunde schreiben. Eigentlich nett. Fast wie früher, als ich nur zum Spaß geschrieben habe und kein Geld damit verdienen musste. Und ich liebe die Geschichte immer noch. Leider ist eine Stunde täglich nicht genug, um den Nano zu gewinnen. Heute habe ich mir größtenteils freigenommen, um aufzuholen und bin jetzt immerhin so weit, wie ich sein sollte (15.000 Wörter). Der Schwung vom Anfang ist ein wenig weg, weil ich jetzt ernsthaft nachdenken muss. Darüber, was ich schon etabliert habe und darüber, was noch passieren muss und so. Das ist immer so und beunruhigt mich nicht sonderlich. Heute oder morgen kommt allerdings der große Turning Point und ich bin ein klein wenig nervös. 🙂 Und Josh wird immer noch von allen geärgert. Er regt sich aber auch so schön auf. Die Lieblingsstelle kommt diesmal allerdings von Lucien, mit einer groben Fehleinschätzung.

Wordcount heute:  4.486 Wörter
Wordcount „Josh“ insgesamt: 15.024 Wörter

Lieblingsstelle:
»War Josh schon immer so ein homophober Trottel?«, fragte er. Das war das Erste, was ihm eingefallen war. Sie sah ihn verwundert an.
»Homophob?«
»Na, er kann mich doch nicht leiden, weil ich schwul bin, oder?«
Sie blinzelte. »Na ja, schon irgendwie, aber … Ich glaube, das liegt mehr an seiner Familie.«
Sofort hatte Lucien ein Bild vor Augen: Eine feiste Familie in traditionellen Lederhosen, die unter einer Kuckucksuhr vor dem Fernseher saß und sich darüber aufregte, dass »solche« inzwischen sogar heiraten durften.
Das beschmutzt die Heiligkeit der Ehe, hörte er Joshs Vater sagen, einen schnauzbärtigen Glatzkopf mit einem verblassten »Deutschland über alles«-Tattoo am Hals.
Seine Frau würde stumm, aber entschlossen nicken. Und Josh würde sagen, dass sie so einen sogar an der Schule hätten.
Von dem hältst du dich fern, Sohn, knurrte der Vater in Luciens Vorstellung. Komm dem nicht so nahe, sonst fängst du dir Wer weiß was ein.
Die Mutter keuchte entsetzt, als Josh berichtete, dass die Schulschwuchtel ihn sogar zu Boden gestoßen und auf ihm gelegen hatte.
Einsperren müsste man die alle, sagte Joshs Vater und biss in sein Schnitzel …
»Lutschen?«, fragte Anna. Hm? »Ist was? Du guckst so komisch.«
»Nichts, nichts.« Lucien räusperte sich. »Was ist denn mit Joshs Familie?«

Irgendwie schön

Das Buch ist im vollen Gange, auch wenn ich nicht so schnell zum Schreiben komme wie ich es gern würde. Da sind noch zwei Aufträge, um die ich mich ebenfalls kümmern muss. Aber das Schreiben macht genau so viel Spaß, wie ich gehofft hatte. Ich liebe dich, Josh! Und du hast noch nicht mal eine deiner patentierten Idiotenaktionen gebracht, obwohl … die Szene, die ich vorhin geschrieben habe, könnte man so bezeichnen.

Natürlich geht die Geschichte mit einem furchtbaren Missverständnis (TM) los, das hoffentlich nachvollziehbar ist, wenn man es liest. Ich finde es total logisch. Und ein bisschen traurig. Und überhaupt. Na egal, ich notiere mal meinen Wordcount und dann schreibe ich weiter.

Wordcount heute:  1.384 Wörter
Wordcount „Josh“ insgesamt: 6.444 Wörter

Lieblingsstelle:
Als sie in das Musikzimmer kamen, war der Trottel schon da. Josh. Vornübergebeugt wie ein garstiger Troll saß er in einer Ecke und kritzelte irgendetwas auf seinen Collegeblock.
Etwas schmerzte in Luciens Magen, als er ihn sah. Es erinnerte ihn an all die anderen blöden Kommentare, die er sich damals eingefangen hatte.
Sitz bloß nicht neben mir, sonst denken alle, ich bin auch schwul.
Was glotzt du mich so an, Schwuchtel? Bist du etwa in mich verliebt?
Wir wollen dich nicht mehr in der Band haben. Du weißt schon. Geht halt nicht.
Er atmete tief ein. Er war jetzt groß und stark und wusste, wie man sich wehrte. Mit Worten und mit Fäusten. Warum war er innen drin immer noch ein verängstigter kleiner Bengel?

Kurz, knapp

Es war ein langer, ereignisreicher und sehr erfolgreicher Tag und ich liege in der Badewanne. 🙂 Daher nur kurz die Zahlen und ein paar Lieblingssätze.

Wordcount heute:  1.975 Wörter
Wordcount „Josh“ insgesamt: 5.060 Wörter

Lieblingsstelle:
»Können wir das Thema wechseln?«, brummte Josh.
Anna seufzte leise. »Meint ihr, Lutschen hat eine Freundin?«
Der Themawechsel war eine beschissene Idee gewesen.
»Bestimmt hat er drei«, sagte Josh. »So Bandtypen haben immer ein Mädel in jedem Hafen und, äh, verhüten tun die auch nicht.«
»Du bist ja nur neidisch.« Anna schnaubte. »Ich wette, alle Jungs hier sind neidisch auf Lutschen.«
»Lucien«, verbesserte Josh, doch sie redete weiter, ohne ihn zu beachten.
»Ich glaube, er hat mich eben angesehen. Also, so richtig tief. Er hat fast nur meine Fragen beantwortet.«

Kleine Vorschau auf „List und Liebe“

Endlich ist es soweit. 🙂 Shirleys Band ist korrigiert, testgelesen, hat ein Cover und sogar einen Namen. Den habe ich gestern nach einer Last Minute-Facebook-Umfrage festgelegt. Über manche Dinge sollte man nicht zu lange nachgrübeln.Vielen Dank an alle, die mitgeholfen haben!

Nun ist das E-Book auf Amazon vorbestellbar. Eine große Bekanntmachung gibt es am Ersten, wenn es richtig erscheint. Weil es bis dahin auch keine Leseprobe auf Amazon gibt, poste ich hier mal zwei Kapitel für alle Unentschlossenen. Eins vom Anfang und ein etwas späteres, in dem sämtliche Winter-Geschwister eine gesittete Unterhaltung führen. Oder das, was sie dafür halten.

1. Shirley

Gwendolyn Ophelia Luise von Rieke-Rothaus hielt ein Referat. Leider.
»Na ja, und dann sind sie nach …« Sie sah auf die Notizen in ihren perfekt manikürten Händen. Ihr süßes Gesicht verzog sich, als sie versuchte, die eigene Handschrift zu entziffern. »Dann sind sie nach Teneriffa gesegelt und dann haben sie den Äquator überquert und, äh, dann sind sie in Südamerika angekommen und dann …« Sie zwirbelte eine blonde Strähne zwischen den Fingern. »Na, den Rest könnt ihr euch denken, nicht wahr?«
Gwen lächelte. So strahlend, dass Shirley ein leises Seufzen von rechts vernahm. Luis‘ Seufzen. Der verschlang Gwens schlanke Gestalt mit den Augen. So wie jedes männliche Wesen in der Klasse, aber Luis war ein besonders hoffnungsloser Fall. Seit Gwen ihm im letzten Jahr die Ehre gewährt hatte, zwei Wochen lang ihr Freund zu sein, schmachtete er sie an. Shirley fragte sich ernsthaft, warum. Seit der Sache mit Luis hatte Gwen mindestens vier ebenso kurzfristige Beziehungen gehabt. Außerdem hatte sie dreimal die Sportart gewechselt, sieben neue Frisuren ausprobiert und zwei Fremdsprachen angefangen.
Kurzzeitig war sie in Shirleys Spanischkurs gewesen, bis sie die Lehrerin überredet hatte, dass sie zu Japanisch wechseln durfte. Gwen kam mit so etwas durch. Ein unschuldiger Augenaufschlag, ein Lächeln, das ihre Grübchen zum Vorschein brachte und alle taten, was sie wollte. Sie meinte es ja nicht böse. Sie war einfach jemand, der schnell das Interesse verlor.
Das Referat hatte übrigens spannend begonnen. Gwen hatte voll Leidenschaft von Magellans Kindheit erzählt, davon, wie er in einer verarmten Adelsfamilie aufgewachsen war, wie früh seine Eltern gestorben waren und wie er sich trotz aller Widrigkeiten hochgekämpft hatte. Aber schon, als er den ersten Kapitänsposten erreicht hatte, war ihre Stimme monotoner geworden und sie hatte immer öfter in ihre Notizen schauen müssen. Die nun anscheinend zu Ende waren.
»Das war’s.« Gwen lächelte. Warmes Herbstlicht fiel durch die Fenster auf ihre goldenen Haare und ihre graublaue Schuluniform. Sie sah aus, als wäre sie einem Werbeprospekt entstiegen. Es war ein bezauberndes Bild, wie sie vor der Tafel stand, in dem hellen Raum mit den stuckverzierten Decken, strahlend schön und aufgeweckt. Kurz: die ideale Schülerin. Ihre Frisur saß perfekt, ihre Haltung war elegant und sie erzählte völligen Schwachsinn. »Der Ferdinand hat die Welt umsegelt und, äh, alles wurde gut und er lebte glücklich bis an sein Lebensende.«
Herr Wuller sah Gwen ungläubig an. Selbst der langwimprigste Augenaufschlag würde sie jetzt nicht mehr retten.
»Bis an sein Lebensende?«, fragte Wuller. Seine Stimme triefte vor Sarkasmus.
Gwen nickte und machte Häschenaugen.
Shirley überlegte, ob sie Gwen irgendein Zeichen geben konnte. Ihr irgendwie verständlich machen konnte, dass ihre Version der Realität nicht ganz mit der in den Geschichtsbüchern übereinstimmte. Aber sie tat es nicht. Nicht nur, weil Gwen darauf bestand, Magellan »den Ferdinand« zu nennen. Shirley war immer noch sauer auf sie. Dieses Püppchen hatte ihr die erste Drei in ihrer gesamten Schullaufbahn eingebrockt. Also verschränkte Shirley die Arme, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, und beobachtete, wie Gwen vorne an der Tafel ins Schwitzen geriet.
»Wurde wirklich alles gut für Magellan?«, bohrte Wuller weiter und ließ die Fingernägel über sein Pult tanzen.
Gwen überlegte fieberhaft. Nachdenklichkeit stand ihr gut, so wie eigentlich alles. Leise Panik huschte über ihr Engelsgesicht.
»Nein, also, er …« Sie sah in die Klasse, auf der Suche nach Rettung. Es gab keine. »Natürlich war er nicht immer glücklich. Er, äh, also seine Ehe ist in die Brüche gegangen, weil er so viel unterwegs war?« Sie sah Wuller fragend an.
Der verdrehte die Augen. »Nein.«
»Er war immer sehr traurig, weil er eine Glatze hatte? Ich meine, der Hut kaschiert das ganz gut, aber …«
»Nein.«
»Die anderen Matrosen haben ihn geärgert, weil er Ferdinand hieß? Ich weiß auch nicht, was seine Eltern sich dabei gedacht haben …« Ihre Stimme verklang.
»Nein.« Herr Wuller seufzte. »Kann jemand Frau von Rieke-Rothaus erklären, warum Magellans Weltumseglung kein Happy End hatte?«
Shirley hasste sich ein wenig, weil sie als Einzige die Hand hob.
Abiturnote 1,0, sagte sie sich. Abiturnote 1,0. Keine Rücksicht.
»Frau Winter?« Wuller nickte ihr zu.
»Er starb, bevor sie endete«, sagte sie. »Im April 1521 wurde er bei einem Kampf mit den Einheimischen von Mactan getötet. Er bekam eine Lanze ins Gesicht und eine unter den rechten Arm und war vorher schon von einem vergifteten Pfeil durchbohrt worden.« Die blutigen Details waren ihr die liebsten. »Die Weltumseglung wurde zwar abgeschlossen, aber ohne ihn. Von 237 Mann und fünf Schiffen, die gestartet waren, kamen nur 18 Mann und ein Schiff zurück.«
»Genau«, sagte Wuller.
»Oh nein«, sagte Gwen. »Der arme Ferdi.«
Wuller schaute sie an, als hätte sie gefurzt. Eigentlich ganz nett von Gwen, dass sie Mitleid mit einem Kerl hatte, der vor über 500 Jahren verstorben war.
»Frau von Rieke-Rothaus, wie weit haben Sie das Buch, das sie vorstellen sollten, gelesen?«, fragte er. Seine Stimme schnitt durch die Luft wie ein Rasiermesser. »Anscheinend nicht bis zum Ende, oder?«
»Nein.« Gwen sah zu Boden. »Tut mir leid. Der Anfang war super, aber dann … Also, es wird schon etwas öde und … Dann habe ich angefangen, Hockey zu spielen und meine ganze Zeit ist für das Training draufgegangen.« Sie hüstelte.
Wullers Miene wurde immer finsterer. Unangenehmes Schweigen hing im Raum, drückend wie ein heranziehendes Gewitter.
»Frau von Rieke-Rothaus, wenn Sie in der zwölften Klasse«, er wurde lauter, »noch nicht in der Lage sind, ein Buch zu beenden, für dessen Lektüre Sie DREI WOCHEN ZEIT HATTEN …«
»Genau genommen hatte Magellans Geschichte ein Happy End«, platzte Shirley heraus. Irgendjemand musste etwas tun, sonst würde der Rest der Stunde daraus bestehen, dass Wuller Gwen anbrüllte. Und da sich mal wieder keine der reichen Gören dazu herabließ … »Ich meine, seine Expedition hat als erste die Welt umsegelt, auch wenn nicht alle Teilnehmer lebend ankamen. Sie haben endgültig die Kugelform der Erde bewiesen, die bis dahin immer noch angezweifelt wurde und deshalb hat sein Name die Jahrhunderte überdauert und … das ist doch was. Außerdem wurde die Magellanstraße nach ihm benannt, er ist also quasi unsterblich geworden, auch wenn er, na ja, gestorben ist.«
Sie versuchte, überzeugend zu schauen. Wullers Gewittermiene glättete sich. Ein wenig. Ein ungläubiges Schnauben entkam seinen Nasenlöchern.
»Das könnte man so sehen«, brummte er. »Wenn man die Geschichte sehr großzügig auslegt. Fakt ist aber, dass Frau von Rieke-Rothaus erneut die ihr gestellte Aufgabe nicht erfüllt hat.«
»Der Anfang war korrekt.« Shirley, du solltest einfach die Klappe halten, dachte sie. Einfach die Klappe halten. Aber darin waren die Mitglieder ihrer Familie nie besonders gut gewesen. »Dafür sollte sie ein paar Punkte bekommen, oder?«
Wuller sah sie an, als wäre sie vollkommen bekloppt.
»Die Punkte vergebe ich, Frau Winter«, knurrte er. Das war es wohl mit Shirleys Lieblingsschüler-Status gewesen. »Von Rieke-Rothaus, Sie bekommen sieben Punkte, weil ich ein gnädiger Lehrer bin. Setzen Sie sich.«
Gwen duckte sich und huschte an ihren Platz zurück. Leise seufzend ließ sie sich neben Shirley nieder.
»Danke«, flüsterte sie. »Ich hab gedacht, gleich reißt er mir den Kopf ab.«
Ihr Atem kitzelte Shirleys Ohr und der dezente Duft ihres Parfüms zog herüber. Vanille und Sandelholz. Shirley sah stur nach vorne.
»Bitte«, flüsterte sie.
»Weißt du«, wisperte Gwen in ihr Ohr, »ich wollte echt weiterlesen, aber mir sind immer die Augen zugefallen und irgendwie habe ich es total vergessen, bis gestern Abend …«
»Von Rieke-Rothaus! Folgen Sie dem Unterricht?«, brüllte Wuller.
»Nei… äh, ja. Natürlich.« Gwen richtete sich auf und versuchte, aufmerksam zu schauen. Sie wirkte wie ein Kindergartenkind, das so tat, als wäre es schon eine richtige Schülerin. Shirley schüttelte innerlich den Kopf.

***

Sobald der Geschichtsunterricht vorbei war, strahlte Gwen wieder.
»Danke nochmal!« Sie haute Shirley erstaunlich kräftig auf die Schulter. »Das war so supernett von dir!« Anscheinend hatte sie schon vergessen, dass Shirley ihr ganzes Streberwissen über Magellan ausgebreitet und sie bloßgestellt hatte. Noch mehr, als Gwen sich selbst bloßgestellt hatte.
Shirley brummte irgendetwas Undeutliches.
»Reiten wir mal wieder aus, Shirley?«, fragte sie. »Das haben wir schon so lange nicht mehr. Hast du heute Nachmittag Zeit?«
»Nein, ich muss lernen«, sagte Shirley. Das stimmte ja auch.
Ein Schatten flog über Gwens Gesicht. »Oh. Okay. Also, vielen Dank für die Rettung. Bis später!« Schon lächelte sie wieder. Sie schnappte sich ihre Burberry-Tasche, hüpfte zu den anderen Klassenprinzessinnen hinüber und schnatterte mit denen, bis sie gemeinsam aus der Tür verschwunden waren.
Dom tauchte neben Shirleys Pult auf.
»Lernt sie überhaupt mal?«, fragte er. Zweifelnd sah er der Mädelstruppe mit den hochglanzpolierten Haaren nach. »Ihr Referat über Effi Briest lief genauso.«
»Glaub kaum. Ich verstehe immer noch nicht, wie sie es bis in die Zwölfte geschafft hat, ohne sitzenzubleiben.«
»Charme, gutes Aussehen und reiche Eltern.« Dom lächelte. »So wie du.«
Shirley schnaubte. Witzig. Sie besaß exakt nichts davon. Das Einzige, was sie hatte, war ihr Gehirn, und das trainierte sie gerade wie ein Bodybuilder seinen Bizeps.
»Lernen wir heute?«, fragte sie und wie immer nickte Dom.
Als sie gemeinsam durch den Flur gingen, bemerkte Shirley, dass eine entgegenkommende Gruppe Mädchen ihnen böse Blicke zuwarf. Nein, nicht ihnen. Ihr. Dom schauten die Mädchen an, als hätte er eine Schokoglasur mit Zuckerherzen. Wie üblich. Und wie üblich duckte er sich unangenehm berührt, bis sie an denen vorbeigegangen waren.
»Hab ich was im Gesicht?«, murmelte er unbehaglich. »Nein, oder?«
»Doch, hast du«, sagte Shirley. Sie hob ihre Stimme zu einem verzückten Quietschen. »Strahlende Schönheit. Freu dich doch. Andere Jungs würden Werweißwas dafür geben, so angesehen zu werden.«
»Hmja, toll.« Dom sah zu Boden. Der arme Kerl. Er konnte ja nichts dafür, wie er aussah. Wie einer von diesen Boygroup-Boys, mit weichen, welligen Haaren, seelenvollen dunklen Augen und einem Gesicht, das vollkommen symmetrisch war. Symmetrie war Schönheit, das hatte Shirley gelesen. Der perfekte Abstand zwischen Augen, Nase, Mund und Kinn, sowie deren Größe im Verhältnis zum Rest. Wieder ein Beweis, dass man alles berechnen konnte.
»Ist ja nicht deine Schuld, dass du hübsch und reich bist.« Shirley versuchte, nicht zu lächeln. »Du armes Häschen.«
»Klappe.« Er grinste. »Und ich bin überhaupt nicht reich.«
»Ne, aber dein Vater ist der drittreichste Mann von Ebernau.«
»Der viertreichste. Und Ebernau ist nicht sehr groß.«
»Immerhin groß genug, dass sich diese Bonzenschule hier lohnt.«
Er hob gespielt vornehm eine Augenbraue. »Diese exklusive Privatschule, meinst du.«
»Bonzenschule für nichtsnutzige Gören.«
»Was verstehst du denn davon, du Stipendiatin?« Er zog an ihrem Pferdeschwanz. Ein braunhaariges Mädel, das an der dunklen Wandtäfelung lehnte, warf Shirley den vernichtendsten Blick zu, den sie heute empfangen hatte.
»Kann nicht verstehen, was er an ihr findet«, hörte Shirley sie zischen. Das verstand niemand. Nicht mal sie selbst war sich ganz sicher, warum Dom ausgerechnet mit ihr befreundet war.
Sie hatte nicht damit gerechnet, überhaupt Freunde zu finden, als sie auf die Wilhelmine-von-Grävenitz-Privatschule gewechselt war. An ihrer alten Schule hatte sie es genau zu einem Freund gebracht: ihrem Zwillingsbruder. Alle anderen hatten sie eine biestige Streberin genannt, allerdings nur hinter ihrem Rücken. Wenn man wie Shirley drei Brüder hatte, lernte man, auszuteilen.
Aber Dom war immer wieder bei ihr angekommen und hatte versucht, mit ihr zu reden. So lange, bis sie beschlossen hatte, dass er vertrauenswürdig war. Und das, obwohl er unter all den verwöhnten Söhnchen hier eins der reichsten war. Seinem Vater gehörte eine Restaurantkette, die Filialen in fast allen Städten der Umgebung hatte. Er war in einem gigantischen Anwesen aufgewachsen und von den besten Kindermädchen aufgezogen worden. Shirley betrachtete seine schwarzen Schuhe. Feinstes italienisches Leder. Vermutlich. Was verstand sie davon? Genau: nichts.
Doch auf seine Art hatte Dom genau so viele Probleme wie sie. Die Mädchen mochten ihn, obwohl er nicht auf Mädchen stand und die Jungs waren sauer, weil die Mädchen hinter ihm her waren. Wenn die wüssten … Seit Valentin bei Luzia abgeblitzt war, weil die auf Dom stand, hatte der das halbe Hockeyteam als Feind. Und dann war Dom in einer Umfrage auch noch zum schönsten Jungen der Schule gewählt worden. Mit Abstand.
»Ich sag’s ihnen«, flüsterte er, als hätte er ihre Gedanken gehört. Sie musste nicht mal fragen, was, so oft hatten sie das Gespräch schon geführt. »Bald. Ich … ich muss mich nur erst mental vorbereiten. Ich will nicht, dass sie dich weiter so behandeln.«
»Mir ist egal, wie die mich behandeln.« Shirley grunzte undamenhaft. »Ich glaub kaum, dass die netter zu mir werden, wenn rauskommt, dass wir wirklich nur Freunde sind. Ich meine, wir sagen ihnen ja, dass da nichts zwischen uns läuft und sie glauben es nicht. Warum soll sich das ändern«, sie senkte die Stimme, »sobald du dich outest?«
Er schenkte ihr einen dankbaren Blick. Und stolperte. Einer der Hockeyspieler, die ihnen entgegenkamen, hatte ihn geschubst. Marten van Meddel. Sein Gesicht war zu einem höhnischen Grinsen verzogen.
»Weichei«, hörten sie im Vorbeigehen. »Schönling.«
Shirley wirbelte herum, aber Dom packte ihren Arm.
»Nicht«, warnte er. »Lass ihn reden, was er will. Mir ist nichts passiert und das ist er nicht wert.«
»Überhaupt nichts ist der wert«, knurrte Shirley. »Und er braucht ’ne Abreibung, sonst denkt er, er kommt immer mit dem Scheiß durch.«
»Eine Abreibung? So eine wie Daniele letztes Mal?« Dom zog sie mit sanfter Gewalt weiter. Marten und seine dämlichen Freunde, die ihm lachend auf die Schultern hauten, verschwanden um die nächste Ecke. »Ich will nicht, dass du schon wieder suspendiert wirst, Shirl.«
»War doch nur eine Woche«, sagte sie, obwohl er eigentlich recht hatte. Sie durfte ihr Abi nicht nochmal gefährden.
»Eine Woche und eine dreißigseitige Strafarbeit.«
»Über die Verbreitung der Pest auf der Seidenstraße. Das hat sogar Spaß gemacht. Genau wie Daniele das Buch auf die Nase zu hauen.«
»Das Buch? Das war die Herr-der-Ringe-Gesamtausgabe.« Dom schüttelte den Kopf. »Der kann froh sein, dass er noch ein Gesicht hat. Und alles nur, weil er mir ein Bein gestellt hat.«
»Vor der Treppe. Der hätte dir das Genick brechen können.«
»Dafür sind meine Reflexe zu gut«, sagte Dom gleichmütig. »Ich habe keinen Kratzer abgekriegt.«
»Ich versteh dich nicht.« Shirley war nicht ganz klar, ob sie Dom bemitleidete oder bewunderte. Vielleicht beides. »Wenn ich du wäre, würde ich jedem, der so einen Scheiß labert, die Nase brechen. Du machst doch Taekwondo, warum wendest du das nicht an?«
»Das wäre nicht sehr nett.«
»Nervensägen wie Daniele und Marten sind nicht nett. Ich bin nicht nett. Und du solltest auch nicht nett sein.«
»Eben hast du Gwen geholfen. Das war ziemlich nett, würde ich sagen.« Dom öffnete die Tür des Musikzimmers und sah sie an. Seltsamer Blick. Als wüsste er etwas, das sie nicht wüsste. So ein Blödsinn.
»Gar nicht«, motzte sie. »Ich wollte nur nicht, dass Wuller sie bis zum Gong anschreit. Das würde das Püppchen nicht verkraften.«
»Ach, das Püppchen ist ein Stehaufmännchen.« Dom warf sich auf seinen Platz und Shirley setzte sich neben ihn. »Und sie mag dich. Warum freundest du dich nicht mit ihr an? Dann hättest du es hier bestimmt leichter.«
»Nach unserem Referat? Niemals.« Shirley schleuderte ihren Collegeblock auf das Pult und lehnte sich in ihrem ergonomischen Stuhl zurück. Wie jeder Stuhl in der Wilhelmine-von-Grävenitz-Schule schmiegte er sich an ihren Hintern, als wäre er nur für ihn geschnitzt worden. »Wegen ihr habe ich eine Drei bekommen. Ich habe noch nie eine Drei bekommen.«
Dom schwieg. Eh besser, der Musiklehrer betrat gerade das Klassenzimmer. Trotz des trüben Wetters draußen war der Raum warm und gemütlich. Mit den hohen Fenstern und den weißen Vorhängen sah er eher wie ein Vortragssaal als wie ein Klassenraum aus. Die Luft roch nach altem Holz und Parkettpolitur.
Diese Drei würde sie Gwen nie verzeihen. Wenn die gelernt hätte … Wenn die ihren Teil erledigt hätte, hätte Frau Iretzka ihnen nicht diese beschissene Gemeinschaftsnote gegeben.
Mit neu entfachter Wut schaute Shirley zu Gwen hinüber, die gerade mit ihrer Freundin Emily redete und gleichzeitig kleine Zöpfchen in ihre Haare flocht. Der Musiklehrer ermahnte sie, zuzuhören. Gwen schaffte es, drei Minuten lang stillzusitzen, dann begann sie, auf ihrem Collegeblock herumzukritzeln. Shirley erkannte Herzchen und Blumen, die aussahen, als hätte ein Kindergartenkind sie gezeichnet. Ein verträumter Ausdruck war auf Gwens Gesicht erschienen.
Konzentrier dich, du Püppchen, dachte Shirley. Wir sind nicht zum Spaß hier.

Kapitel 17

»Hier, für euch.« Marc grinste breit und stellte je einen Becher Glühwein vor Shirley und Josh.
»Aber für jeden nur einen«, sagte Nils streng und setzte sich gegenüber. Marc warf sich so schwungvoll neben ihn, dass sein Tonbecher fast überschwappte.
Josh sah mit leuchtenden Augen auf seinen Glühwein. Weißer Dampf kringelte sich hoch, scharf und würzig duftend. Nelke und Zimt und Alkohol. Ziemlich viel Alkohol, wenn Shirley das mit ihrer begrenzten Erfahrung richtig einschätzen konnte.
»Ist das mit Schuss?«, fragte sie misstrauisch. Marcs Grinsen wurde noch breiter.
»Jupp. Nur das Beste für meine kleinen Geschwister.«
»Danke.« Josh strahlte.
»Bitte«, sagte Marc. »Ist dafür, dass ihr uns die Plätze freigehalten habt.«
»Wir sind minderjährig und sollten keinen harten Alkohol bekommen«, murrte Shirley. Nils brummte etwas Zustimmendes.
»Ach, das verfliegt eh bei der Hitze.« Josh setzte den Becher an den Mund und trank ihn in einem Zug halb leer. »Lecker!«
»Auf uns!« Marc hob seinen Becher. »Die beste Familie von Ebernau!«
»Auf uns!«
Die Becher klangen dumpf, als sie aneinanderstießen. Das Geräusch war so leise, dass man es kaum hörte. Dabei hatte die Band gerade Pause. Auf der mit Lichterketten geschmückten Bühne fanden die Umbauarbeiten statt. Doch auf den restlichen Festbänken saßen dichtgedrängt Leute, die halb in ihren Winterklamotten verschwanden und sich so laut unterhielten, dass ein beständiger Geräuschteppich entstand. Irgendwie beruhigend.
Shirley nestelte an ihren Ärmeln herum, damit die eisige Luft nicht mehr in den Spalt zwischen Jacke und Handschuh dringen konnte. Der Himmel über ihnen war schwarz. Die Stände waren so üppig mit bunten Lichtern geschmückt, dass man keine Sterne erkennen konnte.
So friedlich wie selten saßen die Winter-Geschwister unter den anderen Gästen und nippten an ihren Bechern.
»Wann fängt die Energizonic-Tour an?«, fragte Nils Marc.
»Am fünfzehnten. Das Hotel ist schon gebucht.« Er schüttelte den Kopf. »Flo hat sogar irgendein Restaurant gefunden, das wir unbedingt auskundschaften müssen.«
»Du meinst leerfressen«, sagte Nils.
»Das ist mein Plan.« Marc nahm einen Schluck Glühwein. »Flo ist auf der Suche nach neuen Gerichten für Maries Restaurant.«
Josh kicherte. Seine Wangen waren bereits gerötet und sein Tonbecher leer.
»Was hast du, Zwerg?« Marc hob eine Augenbraue.
»Du sprichst ihn so lustig aus.« Josh schüttelte den Kopf. Er machte seine Stimme weich wie Zuckerwatte. »Flooooo …«
Shirley prustete los. Ups. Wieso fühlte ihr Kopf sich so leicht an?
»Flooo …«
»Klappe, du Zwerg. Ich kann über meinen Freund reden, wie ich will.«
»Flooo«, säuselte Shirley, im Chor mit Josh. Dann schüttelte sie den Kopf. »Sei nicht so gemein zu Marc. Er ist halt verliiiebt.«
»Saupeinlich verliebt. In Flooo.« Josh kicherte und Shirley konnte nicht anders als mitzumachen.
»Was zur Hölle hast du in den Glühwein gemixt?«, fragte Nils Marc.
»Nur Korn.« Marc wirkte verstimmt. »Wusste ja nicht, dass die beiden Jungfrauen gleich anfangen zu nerven. Kriegt erst mal selbst wen ab, bevor ihr euch über andere Leute lustig macht.«
Josh verzog das Gesicht. Er hasste es, wenn Marc ihn so nannte. Vor allem, weil es stimmte. »Ich arbeite daran«, brummte er. »Und Shirley auch.«
Was? Shirley packte ihren Becher fester.
»Was?!« Ihre großen Brüder sprachen so gleichzeitig, wie sonst nur sie und Josh. Ups. Plötzlich durchbohrten zwei Paar hellgrüne Augen sie von der anderen Seite des Tisches aus.
»Gar nicht«, behauptete sie und versuchte, sich hinter dem Glühweinbecher zu verstecken. Dieser dämliche Josh! »Da ist niemand.«
»Niemand. Absolut niemand.« Josh nickte hastig. Schuldbewusstsein erfüllte sein Gesicht. Mist, der war der schlechteste Lügner, den sie kannte. Noch grottiger als sie und Dom.
»Shirley.« Nils nahm ihr den Becher aus der Hand. Toll, nun hatte sie nicht mal mehr was zum Festhalten. »Gibt es da jemanden?«
»Neinnein. Gib mir den Wein zurück.« Sie angelte danach, aber er hielt ihn über ihren Kopf. Keine Chance. Nils‘ Arme waren einfach zu lang. »Mann, Nils, seh ich aus, als wäre ich hinter irgendwem her? Dafür kennst du mich doch zu lange, oder?«
»Sie war in letzter Zeit anders. Noch seltsamer als sonst.« Marc kratzte sich am Kinn. Sie saßen ihr gegenüber wie zwei Polizisten beim Verhör. Zwei blonde Riesen.
Guter Cop, böser Cop, dachte sie und unterdrückte ein Kichern. Nur dass beide böse aussahen. Normalerweise war Nils der Verständnisvolle.
»Raus mit der Sprache«, verlangte Nils. »Wer ist es?«
»Niemand.« Shirley verschränkte die Arme, was in der dicken Winterjacke gar nicht so leicht war. »Da ist keiner.«
»Ich wette, es ist Dom«, sagte Marc nachdenklich. »Den sollten wir uns mal vornehmen.«
»Sollt ihr nicht«, fauchte sie.
»Doch, ich glaube, das ist eine gute Idee.« Nils reichte ihr den Becher zurück und machte Anstalten, aufzustehen. »Ich hab ihn vorhin bei der Schießbude gesehen.«
»Ihr bleibt sitzen!« Shirleys Stimme schallte über den ganzen Platz. Oh. Gespräche verstummten. Immerhin blieben Marc und Nils, wo sie waren. »Bleibt sitzen«, wiederholte sie leiser. »Wenn ihr Dom auch nur ansprecht, rede ich nie wieder ein Wort mit euch, ist das klar? Nie wieder.«
»So wichtig ist dir der Schönling?« Marc rümpfte die Nase. »Der ist doch nichts für dich. Wenn der dir das Herz bricht …«
Statt weiterzureden, ließ er die Knöchel knacken. Nils schaute, als stellte er sich gerade vor, Doms Genick zu brechen wie einen trockenen Zweig.
»Der bricht mir nicht das Herz«, zischte sie. »Und jetzt hört auf, euch wie Dorftrottel zu benehmen. Das ist meine Sache und … Warum regt ihr euch nicht über Josh auf? Der ist schließlich auch hinter irgendwem her.«
»Das klappt doch eh nicht.« Marc winkte ab.
»Hey!« Josh knallte seinen leeren Becher auf den Tisch.
»Shirley, du bist unsere Schwester.« Nils klang trügerisch sanft. »Wir müssen dich beschützen.«
»Einen Scheiß müsst ihr.« Sie stieß ein Knurren aus. Gut, so langsam wurde sie wütend auf die beiden Trottel. Und auf Josh auch, den Verräter. »Ihr müsst mich nicht anders behandeln als ihn! Das ist total sexistisch!«
»Wir behandeln dich nicht anders, weil du ein Mädchen bist«, sagte Nils. Er versuchte, aufrichtig zu schauen, aber das misslang. »Du bist halt zarter und … äh, schwächer und … sensibler als …«
Marc prustete los. Dieser Depp. Josh kicherte und selbst auf Nils‘ Gesicht breitete sich ein Grinsen aus.
»Ach ja, die arme, sensible Shirley.« Marc klang, als hätte er Schluckauf. »So schüchtern und verletzlich. Ein zartes, zartes Reh …«
»Arschkopf.« Shirley packte ihren Becher und trank ihn mit einem Zug leer. Der Alkohol stieg ihr sofort in den Schädel. »Dass ich bin, wie ich bin, liegt vielleicht daran, dass ich mich immer gegen euch Trottel wehren musste.«
»Stimmt, das war ganz furchtbar.« Marc sah sie übertrieben mitleidig an. »Weißt du noch, wie du mir die heiße Suppe in den Schoß gekippt hast, weil ich dich Brillenschlange genannt habe? Das war bestimmt schrecklich für dich.«
»Ja. War es.« Sie schob die Unterlippe vor.
Josh lächelte selig vor sich hin. »Das war super.« Nils‘ Blick fixierte ihn.
»Josh, trink was.« Er hielt Josh seinen eigenen Becher hin, der immer noch halb gefüllt war. Glücklich griff Josh danach. Bevor Shirley es verhindern konnte, hatte er den Inhalt in sich hineingekippt.
»Ich hol mehr Wein«, sagte Marc.
»Sitzenbleiben«, fauchte Shirley. »Ihr füllt nicht meinen eigenen Bruder ab, damit er euch verrät, mit wem ich rumgeknutscht habe!«
»Rumgeknutscht!« Nils und Marc sahen sie an, als wären sie zwei Klosterschwestern, vor denen sich ein Exhibitionist entblößte. Die Heuchler. »Mit wem hast du rumgeknutscht?«
»Ich bin fast achtzehn, ihr Pfeifen«, knurrte sie. »Ich kann rumknutschen, mit wem ich will.«
»Wir reden mit Dom«, sagte Nils und legte die Hände auf den Tisch.
»Es ist nicht Dom!«, brüllte sie.
»Es ist überhaupt kein Junge«, lallte Josh. Shirley hielt ihm den Mund zu, aber der Schaden war angerichtet. Ihre blöden großen Brüder verharrten.
»Oh, gut«, sagte Marc und atmete aus. »Noch ’ne Runde?«
»Wer ist es denn?« Wieso klang Nils jetzt wieder wie der liebe, verständnisvolle große Bruder, der er sein sollte? Und warum schaute der so erleichtert? »Kennen wir sie? Ist sie von deiner neuen Schule?«
»Nein. Und ich erzähl euch gar nichts.«
»Okay.« Nils zuckte mit den Achseln. »Du kannst darüber reden, wenn du so weit bist.«
»Warum bist du auf einmal so nett?«, fragte sie. »Was ist besser an einem Mädchen als an einem Jungen?«
»Ein Mädchen kann dich nicht schwängern«, sagte Marc. Das war immerhin logisch. »Noch mal Glühwein für alle außer Josh?«
»Hey!« Josh sah ihn strafend an und schwankte. »Ich kann so viel trinken wie ich will.«
»Nicht, wenn ich zahle.« Marc grinste. »Du kriegst ’nen Kinderpunsch.« Und schon war er in der Menge verschwunden.
»Ich geh nachher auf eine Chaletparty.« Josh sah die Tischplatte an, als wäre sie schuld an allem. »Da krieg ich Bier und Glühwein ohne Ende.«
»Aber kotz nicht auf den Küchenboden, wenn du heimkommst«, sagte Nils. »Ich hab genug davon, euch hinterherzuputzen.«
»Müsstest du nicht, wenn du dir endlich eine eigene Wohnung suchen würdest«, murrte Josh. »Wann hab ich mein Zimmer eigentlich wieder für mich? Und wieso wohnst du nicht in Henrys Chalet?«
»Das hat er vermietet und das habe ich dir schon erklärt, Saufnase.« Nils blickte auf seine Hände. Sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich. Er atmete tief ein. »Ich … also ich warte noch mit dem Suchen, bis ich weiß, wie groß meine Wohnung sein muss.«
»Wie groß … Adoptiert ihr etwa ein Kind?«, fragte Shirley.
Schmerz zuckte durch Nils‘ Züge. »Ne, ich … Ach, ist egal.«
»Ist nicht egal.« Sie packte seine Hand. »Ist was passiert? Kommt Henry an Weihnachten?«
»Er sagt, er kommt.« Nils entzog seine Hand nicht. Mit der anderen rieb er sich über die Nasenwurzel. »Ich denke, dann tut er das auch.«
»Du denkst …« Josh legte den Kopf schief und wäre fast von der Bank gefallen. »Warum sollte er nicht kommen?«
»Ich weiß nicht.« Nils kratzte sich mit der freien Hand unter der dicken Wollmütze. »Er ist … Es kam raus, dass sein Onkel ein paar schlechte Anlagen gemacht hat und … Henry meinte, er muss unbedingt vor Ort in München sein und retten, was zu retten ist. Und da ist er jetzt halt. Seit Wochen.«
»Ach, deshalb kommt er nicht mehr her.« Shirley betrachtete Nils‘ besorgtes Gesicht. »Du hast nur gesagt, er hätte noch zu tun.«
»Viel mehr erklärt er mir auch nicht«, sagte Nils. »Nur, dass er zu tun hat und alles kompliziert ist und … dass er ständig abgelenkt ist. Wir reden kaum noch. Weihnachten wird alles besser, meint er. Dann hat er das Schlimmste hoffentlich geschafft.«
»Dann ist ja gut.«
»Er kommt Weihnachten bestimmt her«, sagte Josh. »Er ist doch immer mitgekommen.«
»Ja.« Nils sah auf seine Hände. »Ich weiß nicht, ob ich mir nur blöde Sorgen mache oder ob da echt was ist. Wir haben uns gestritten, bevor er gefahren ist, wegen den blödesten Kleinigkeiten. Keine Ahnung, ob er wirklich nur gestresst ist.«
»Was soll denn sonst sein?«, fragte Shirley.
»Nichts weiter. Er würde ja nicht … Es ist nicht mehr wie früher, seit er in München ist und ich hier. Er fehlt mir.«
»Dann sag ihm das«, sagte Josh. »Oder fahr rüber, so wie früher.«
Nils räusperte sich. »Er arbeitet rund um die Uhr, um das Geld irgendwie wiederzubekommen. Als ich das letzte Mal da war, haben wir uns nur zum Essen gesehen, und dazu musste ich ihn zwingen. Er hat einfach … gar keine Zeit mehr und ist ständig nur genervt und … Ich weiß nicht.«
Shirley und Josh sahen ihn stumm an. Sie waren eindeutig die Falschen für Beziehungsratschläge.
»Ist auch nicht schlimm«, sagte Nils. Eine glasklare Lüge. Der schaute drein, als hätte man ihm einen Arm amputiert. »Das pendelt sich schon wieder ein. Und dann sehen wir weiter. Ob er wieder öfter herkommt oder … nicht.«
»Warum soll er denn nicht wollen?«, fragte Shirley.
»Na, es geht schon viel länger, als Nils dachte«, sagte Josh und sah nachdenklich aus. »Oder? Und wenn Henry sich nicht auf seinen Onkel verlassen kann, wird er dauernd in München sein müssen, um sich um die Geschäfte zu kümmern. Nils macht sich bestimmt Sorgen, dass das für immer so weitergeht.«
»Gar nicht«, brummte Nils. »Es ist bestimmt … bestimmt bald alles wieder in Ordnung.« Mist. Seinem Gesichtsausdruck nach hatte Josh genau ins Schwarze getroffen.
»Dann ruf ihn doch einfach an und frag ihn, ob er …«, begann Josh, aber er wurde unterbrochen.
Ohrenbetäubender Lärm erklang. Oh nein. Zwei abgewrackte Gestalten torkelten auf die Bühne und droschen auf ihre Akkordeons ein.
»Tach zusammen und frohen Weihnachtsmarkt!«, grölte der Blonde. Seine rote Nase leuchtete heller als die der Plastikrentiere links und rechts vom Bühnenrand. »Wir sind Didi und Waldi und zusammen sind wir Die Möbelpacker!«
»Die einzige Band aus Ebernau, die je einen Nummer-Drei-Hit in der Schlagerparade hatte!« Der Dunkelhaarige mit dem grauenvollen Schnauzer drängte seinen Kollegen zur Seite. Es hätte unmöglich sein sollen, aber er war noch besoffener als der Blonde. »Und jetzt kommt unser größter Hit: Coole Kissen!«
Das Akkordeon setzte ein. Jubel ertönte von einigen Tischen, peinliches Schweigen von anderen.
»Wenn ich dich seh, dann denk ich an ein Sofa«, grölte Waldi ins Mikro, »denn deine Kissen sind so wunderschön!«
»Coole Kissen! Coole Kissen!«, setzte Didi punktgenau ein.
Glühwein und Kinderpunsch wurden auf den Tisch geknallt. Marc nahm Platz, das Gesicht angewidert verzogen.
»Wer lässt die denn jedes Jahr raus?«, fragte er, den Blick nicht von Didi lassend, der schunkelnd über die Bühne stolperte.
»Sie sind die größte Band, die Ebernau hat«, sagte Nils und schüttelte den Kopf. Er griff nach dem Glühwein, als wäre er sein Lebensretter. Dabei trank er sonst fast nichts.
»Erbärmlich.« Marc schnaubte. »Trink deinen Punsch, Joshi.«
»Einen Scheiß mach ich.«
Und dann stritten die beiden sich, wie immer.

 

Ende …

Es überrascht mich jedes Mal wieder, „Ende“ unter einen Text zu schreiben. Wie ist das passiert? Wie bin ich plötzlich da angekommen, wo ich die ganze Zeit hinwollte und warum bin ich mir jetzt nicht mehr sicher, ob ich wirklich aufhören will? Was soll ich mit der plötzlichen Freiheit anfangen? Ist das alles voll der kitschige Scheiß oder ein MEISTERWERK?
Leider oder glücklicherweise habe ich gerade wieder diese Worte getippt und fühle die seltsame Mischung aus Leere und Freude. Ich hab’s echt geschafft, ein Buch zu schreiben. Bisher habe ich keine Ahnung, ob es ein gutes oder ein schlechtes Buch ist, aber das ist egal. Es ist das Buch, das ich schreiben wollte und ich kann eh nicht bewerten, wie seine Qualität ist. Dafür sind Testleser und Rezensenten da. Und die stimmen nicht immer überein. Was zählt ist, dass Shirley und Gwen glücklich sind (Überraschung: Es gibt ein Happy End!) und ich eine kurze Verschnaufpause habe. Ab morgen heißt es: Überarbeiten. Und vielleicht schon mal überlegen, wie ich Joshs Geschichte am besten erzähle …

Wordcount heute:  2.599 Wörter
Wordcount „Shirley“ insgesamt: 66.969 Wörter

Keine Lieblingsstellen mehr wegen Spoilergefahr.

Endspurt!

Es geht auf das dramatische Finale zu und ich habe wieder ein halbwegs vernünftiges Schreibtempo. Der Flow wird nur unterbrochen von Grafikjobs, Zeichenzeug und, und, und … Gestern war der Süße nicht da und ich habe mir mal wieder einen richtig langen Schreibabend gegönnt. Bis nach Mitternacht. Es ist deutlich entspannter, nachts zu schreiben. Keiner ruft an und auf Facebook und in den Foren ist auch nichts los. 🙂 Viel weniger Ablenkung. Gestern habe ich 4 einstündige Einheiten geschafft und über 6000 Wörter geschrieben. Wenn ich je einen ganzen Tag lang einfach nur schreiben würde … Ach, reden wir nicht davon, was möglich wäre. Eine Rohfassung in drei Tagen zum Beispiel. Oder in einer Woche …

Update: das große Finale ist geschrieben und war erstaunlich undramatisch. Mache ich da irgendwas falsch? Mal schauen, wie es sich beim zweiten Lesen anfühlt. Auf jeden Fall fehlen nur noch zwei oder drei Kapitel und das Buch ist beendet. Dann muss ich nur noch die ganzen Fehler rauspicken, bevor es an die richtige Überarbeitung geht.

Wordcount gestern:  6.150 Wörter
Wordcount „Shirley“ insgesamt (gestern): 57.998 Wörter

Wordcount heute:  6.372 Wörter
Wordcount „Shirley“ insgesamt (heute): 64.370 Wörter

Keine Lieblingsstellen mehr wegen Spoilergefahr.

Kurzes Update

Wortziel wieder verfehlt, aber meine Vermutung war richtig: Es liegt an zu langen Pausen (und daran, dass ich heute keinen ganzen Schreibtag hatte). Plan für die Zukunft also: Auch Pausen messen. Aber jetzt erstmal ab ins Wochenende! Das Buch ist, obwohl nicht fertig, schon relativ weit. Eigentlich bin ich mitten im Finale. Und das heißt: Furchtbares, nervenzerfetzendes Drama!

Wordcount heute:  4.261 Wörter
Wordcount „Shirley“ insgesamt: 51.848 Wörter

Lieblingsstelle heute:
»Ich brauch was zu trinken«, sagte ihre Mutter, die Hand an der Kellertür. »Anders halte ich dein Gelaber nicht aus.«
»Mathilda!«
»Mathiiiilda!« Ihre höhnische Stimme hallte wie die eines Geistes von der Kellertreppe wider.
»Dämliches Miststück«, knurrte ihr Vater. Er hob den Blick und sah Gwen. »Oh. Hallo Schatz.«