„Ebernau 4: Winterchaot“ Leseprobe und Cover

Ebernau 4 ist da! Joshs Geschichte heißt (natürlich!) „Winterchaot“ und ist, meiner bescheidenen Meinung nach, der krönende Abschluss der Reihe. Ich mag ihn einfach. 🙂

Ab sofort und für immer erhältlich auf Amazon und demnächst auch als Print. Und nun zum Klappentext:

Der letzte Winter – diesmal in Überlänge!

Zwei ältere Brüder zu haben ist hart. Vor allem, wenn man Josh Winter heißt, beide Brüder schwul sind und einem deshalb alle unterstellen, auch schwul zu sein. Dabei ist Josh doch in Anna verliebt! Anna, die sich leider nur für den Neuen in Joshs Klasse interessiert.
Lucian ist alles, was Josh nicht ist: wunderschön, cool, aus der Großstadt, in einer Band … und von einem düsteren Geheimnis umgeben. Irgendwie muss Josh ihn doch ausstechen können, oder? Selbst ein kindischer Chaot wie er muss in irgendetwas besser sein als dieser arrogante, viel zu attraktive Kerl, der selbstverständlich überhaupt keine kribbligen Gefühle in Josh weckt. Er steht ja nicht auf Männer. Überhaupt nicht.
Aber was ist mit Lucian?

Enthält: Kröten, kreative Maltechniken, Missverständnisse, Männererotik und die langsamste Liebesgeschichte von ganz Ebernau.

LESEPROBE:

1. Ärger

Der Neue betrat die Klasse und Josh Winter wusste, dass er ein Problem hatte. Nein, eigentlich wusste er es zwei Sekunden später, als er Anna leise keuchen hörte. Anna mit den wunderschönen Bernsteinaugen und der süßen Stupsnase. Anna, in die Josh seit Monaten verliebt war. Leider war sie nicht in ihn verliebt. Wirklich nicht. Er hatte sie gefragt. Und ihre Antwort war genau die gewesen, die er gefürchtet hatte.

»Na ja.« Sie hatte, halb erfreut, halb peinlich berührt, zu Boden gesehen, als er ihr seine Gefühle gestanden hatte, auf der Silvesterparty von Dean. Lärm, Rauch und bierseliges Grölen waren bis in das Nebenzimmer gedrungen, in dem sie allein gewesen waren. »Weißt du, Josh, du bist nett, aber … mehr so wie ein Bruder oder ein … Kumpel. Sorry, ich weiß, wie das klingt. Und, also, du weißt schon.«
»Was weiß ich?«, hatte Josh hervorgebracht, obwohl sein Brustkorb sich angefühlt hatte, als hätte Anna die Rippen auseinandergebogen und sein Herz mit einem Akkuschrauber bearbeitet.
Sie fuhr sich durch die wunderschönen braunen Haare. »Ich hätte eh Angst, dass du nachher doch schwul bist.«
»Ich bin nicht schwul«, hatte er gekrächzt, ungefähr zum hunderttausendsten Mal in seinem Leben.
»Deine ganze Familie ist schwul.«
»Gar nicht wahr«, hatte er gesagt. »Meine Schwester ist lesbisch.«
Anna hatte ihn angesehen, als würde das ihr Argument noch bekräftigen. Ihr niedlicher Mund hatte sich verzogen und sie hatte sich die echt superhübschen Augen gerieben.
»Ich könnte einfach nie sicher sein. Und … Du weißt schon.«
Er wusste es wieder nicht. »Was?«
»Du siehst irgendwie aus wie so ein Rothaariger.«
Josh hatte sich eine Strähne seines Haares vor die Augen gezogen, um zu überprüfen, ob sie in den letzten Stunden spontan die Farbe gewechselt hatten. Hatten sie nicht. Immer noch waren sie dunkelschlammbraun.
»Ein Rothaariger, der sich die Haare gefärbt hat«, beeilte sie sich, zu sagen. »Mit deinen Sommersprossen und so. Ich meine, das ist nicht schlimm, aber … irgendwie nicht sexy.«
»Oh.«
»Und außerdem …«
Josh war zurück auf die Party getaumelt, bevor ihr noch mehr Mängel einfallen konnten.
Zwischen den lärmenden und saufenden Leuten, die auf das neue Jahr angestoßen hatten, war er auf einen Sessel gesunken und hatte versucht, nicht zu heulen. Hatte weitestgehend geklappt. Zum Glück war die Luft so rauchgeschwängert gewesen, dass seine feuchten Augen normal gewirkt hatten. Dean war vorbeigetorkelt und hatte Josh gewünscht, dass er im nächsten Jahr einen netten Kerl kennenlernen würde. Am besten schnell. Josh wusste, dass Dean mit allen möglichen Leuten eine Wette darüber abgeschlossen hatte, wann Josh sich endlich outen würde. Anscheinend hatte er auf Anfang Januar getippt.
Es war eine beschissene Art gewesen, das neue Jahr zu beginnen.

Aber heute Morgen, am ersten Tag nach den Sommerferien, war Anna Josh auf dem sonnenüberfluteten Hof begegnet. Total hübsch in ihren Jeansshorts und dem grauen Shirt. Sie hatte ihm zugelächelt.
»Josh«, hatte sie im Vorbeigehen gerufen. »Gut siehst du aus!«
Sein Herz hatte so wild gehämmert, dass er es nicht geschafft hatte, zu antworten. Oder ihr zu sagen, dass sie noch viel, viel besser aussah. Tat sie nämlich. Eigentlich hatte er beschlossen, sie zu vergessen, jetzt, endlich, aber … er hatte sich nicht gegen die Hoffnung wehren können, die sich in ihm ausgebreitet hatte.
Und dann, in der ersten Stunde, hatte sie sich neben ihn gesetzt und ihm von ihren Ferien erzählt und es war absolut magisch gewesen, wie sie von ihrem Mallorca-Urlaub berichtet hatte. Wie ihr sanfter Duft nach Honigshampoo und Sonnencreme zu ihm hinübergeweht war. Joshs ganzer Körper hatte gekribbelt vor Glück.

Dann war alles schiefgegangen.

»Darf ich Ihnen Ihren neuen Mitschüler präsentieren?«, schnarrte Herr Fußinger deprimiert. Er verkraftete das Ende der Sommerferien stets am schlechtesten. »Lucian Grahl.«
In einer Kleinstadt wie Ebernau gab es selten Neuzugänge, also starrten alle den Kerl an, als wäre er eine totale Sensation. Aber das war nicht der einzige Grund: Der Neue war der attraktivste Mann, den Josh je gesehen hatte. Nein, er war nicht plötzlich doch schwul geworden. Er hatte einfach Augen im Kopf.
Der Typ, der vollkommen gelassen nach vorne schlenderte, müde grinste und »Hi«, sagte, sah aus, als wäre er irgendeinem Bandplakat entsprungen. Komplett schwarz gekleidet, mit dunklen, welligen Haaren, geschwungenen Lippen, breiten Schultern und einer so schmalen Taille, dass die Hose bestimmt nur hielt, weil sie viel zu eng war.
Anna keuchte auf und Josh wusste mit absoluter Sicherheit, dass er den Neuen bis ans Ende seines Lebens hassen würde. Er wagte es kaum, den Kopf zu wenden. Als er es doch tat, wünschte er sich, er hätte es gelassen. Annas Augen glänzten wie 1000-Watt-Scheinwerfer, während sie den Trottel anschmachtete. So wie alle Mädels der Klasse. Aber die anderen konnten so viel starren, wie sie wollten. Nur Annas offensichtliche Begeisterung schmerzte. So stark, dass Josh einen Moment lang nicht atmen konnte.
Du blöder Mistkerl, dachte er und sah den Neuen aus zusammengekniffenen Augen an. Der blickte nicht zurück. War wohl zu arrogant.
Er schien überhaupt kein Problem damit zu haben, angestarrt zu werden. Vermutlich war er das gewohnt, der Angeber. Vollkommen ruhig steckte er die Hände in die Hosentaschen und wartete darauf, dass Herr Fußinger ihn ausführlicher vorstellte. Ein Tattoo ragte aus dem Ausschnitt von Lucians dunklem Shirt. Josh erkannte einen schwarzen Kreis, zwei Fühler und die leeren Höhlen eines Totenschädels. Seltsam, warum kam ihm das bekannt vor?
Er sank in seinem Stuhl zusammen und wollte nur noch heim. Anna seufzte leise.
»Lucian ist mit seinen Eltern nach Ebernau gezogen und wird das letzte Schuljahr mit uns verbringen«, murrte Fußinger. »Er kommt aus Hamburg.«
Auch das noch. Eine richtige Großstadt. Josh sah aus den Augenwinkeln, wie seine Klassenkameraden sich vorbeugten. Nur Dean und Dennis lümmelten sich extra-selbstbewusst in ihren Stühlen und sahen den Neuen abschätzig an. Er beachtete sie nicht.
»Lucian, erzähl halt was über dich.« Herr Fußinger schleppte sich zu seinem Pult und setzte sich, langsam wie ein Achtzigjähriger. Dabei war er erst Anfang dreißig. Einmal war Josh ihm auf dem Weihnachtsmarkt begegnet, und sein Lehrer hatte mit glühweingeschwängertem Atem geklagt, dass er sich seinen Job so nicht vorgestellt hatte. Er zähle die Tage bis zur Rente. Mussten noch viele sein, so wie er sich die Augen rieb und seufzte.
Lucian kratzte sich am bloßen Arm und sah an die Decke. Selbst das wirkte nicht unsicher, sondern cool. Ja, der Drecksack schien umgeben von einer undurchdringlichen Rüstung aus Coolness.
»Da gibt’s nicht viel zu erzählen«, sagte er und natürlich war seine Stimme dunkel, voll und melodisch. Blödi. »Meine Eltern haben die alte Metzgerei übernommen und richten da eine Kunstgalerie ein. Meine Mutter kommt aus Ebernau. Ich war leider nur einmal hier, und da war ich noch ganz klein, aber jetzt bleiben wir. Wir müssen uns um meine Oma kümmern, weil sie nicht mehr ganz fit ist.«
Anna seufzte erneut. »Wie lieb«, hörte Josh von weiter hinten. Sein Kopf sank auf die verschränkten Arme. Hoffnungslosigkeit machte sich in ihm breit.
»Ich, hm, spiele Gitarre und habe in Hamburg Capoeira gemacht. Weiß nicht, ob ich damit hier weitermache oder mir was anderes suche. Mal sehen, was Ebernau so zu bieten hat.« Wieder dieses unverschämte, schräge Grinsen. Weiße Zähne. Schwarze Augen.
Wie ein Hai, dachte Josh trübselig.
Der Neue zuckte mit den Achseln. »Habt ihr irgendwelche Fragen?«
Drei Hände schossen hoch. Anna sprach, bevor es irgendjemand sonst tun konnte.
»Du bist in dieser Band, oder? Die, die beim Summer Open Air in Ravensburg aufgetreten ist? Ich hab euch gesehen!«
Nein! Josh schluckte. Der Neue fuhr sich durch die Haare, als wäre es ihm irgendwie peinlich. Er sah zu Boden.
»Ja, das waren wir. Iguana Bullet. Wir hatten echt Glück in diesem Jahr.« Er verzog das hübsche Gesicht. »Wir hatten jede Menge Gigs und haben ’ne Menge Festivals gespielt. Kein Wunder, dass ich sitzengeblieben bin.«
»Sitzengeblieben? Du bist schon achtzehn?« Annas Stimme war ein andachtsvolles Flüstern. Lucian nickte.
Josh war schlecht. Er war auch achtzehn und ein Sitzenbleiber, aber irgendwie hatte das Anna nie beeindruckt. Vielleicht, weil er nicht sitzengeblieben war, weil er über coole Festivals getourt war, sondern weil er ein planloser Chaot war, der dauernd seine Hausaufgaben vergaß.
Fünf weitere Hände schossen in die Höhe. Die Atmosphäre im Raum veränderte sich. Eine Begeisterung, die er hier noch nie erlebt hatte, packte jeden einzelnen von Joshs Klassenkameraden.
»Wart ihr nicht sogar in den Charts oder so?« Monas Augen waren rund wie Suppenteller.
»Nur kurz«, sagte Lucian.
Hör auf, so bescheiden zu tun, dachte Josh.
»Wie lange?«, fragte Dennis und gab sich Mühe, höhnisch zu klingen.
»Fünf Wochen. Die höchste Platzierung war, glaube ich, die Nummer zwölf.« Wieder erschien das schräge Grinsen. »Wolf, unser Schlagzeuger, war stinksauer, dass er so einen kommerziellen Scheiß-Song geschrieben hat.«
Gelächter. Helles Kichern von Anna. Der Raum stank vor Bewunderung. Josh versuchte, mit seinem Tisch zu verschmelzen und in eine andere Dimension zu versinken. Anna hob wieder die Hand.
»Wie fühlt sich das an, wenn man auf einer Bühne steht?«, fragte sie. Ihre Stimme war ein einziges Seufzen.
»Oh, gut«, sagte Lucian. »Verdammt gut.«
»Was für andere Bands habt ihr getroffen, Lutschen?«, fragte Bastian.
»Lucian«, korrigierte Lucian, als hätte er das schon tausendmal gemacht. »Also, in Ravensburg standen wir mit Hamster of the Week auf der Bühne und …«
Der Rest der Stunde wurde nicht besser. Lucian badete in der Bewunderung der Klasse und Josh wurde deutlich vor Augen geführt, dass der Neue ihm in absolut allem überlegen war. In wirklich allem. Er hätte sein rechtes Bein dafür gegeben, dass Anna ihn nur einmal so ansah wie Lucian. Sein einziger Trost war, dass eine Hälfte der Klasse Lucian »Lutschen« nannte und die andere »Luschen«. Ein sehr schwacher Trost. Josh hätte ihn gern »Lusche« genannt, aber der Neue konnte ja nichts dafür, dass Anna auf ihn stand. Und Anna konnte nichts dafür, dass sie auf den Neuen stand. Wie hätte sie nicht auf ihn stehen können?
Josh seufzte leise.
Das wird ein beschissenes Schuljahr, dachte er.

2. Frisch eingetroffen

Ehrlichkeit ist das erste Kapitel im Buch der Weisheit. Das hatte Lucians Vater gesagt. Okay, eigentlich hatte Thomas Jefferson das gesagt, aber Lucians Vater hatte ihn zitiert. Und Lucian wollte ehrlich sein, auch wenn es ihm eine Höllenangst einjagte. Selbst wenn sein Nacken von kaltem Schweiß bedeckt war, während er vor seiner neuen Klasse stand. Die wirkten ganz nett. Neugierig, klar, aber nur die zwei blonden Typen ganz hinten sahen ihn irgendwie feindselig an. Da war Lucian Schlimmeres gewohnt.
Es gab noch einen anderen, der ihn nicht mit strahlenden Augen anblickte: Der niedliche Braunhaarige, der am Fenster saß und schaute, als würde er sich am liebsten von einer Brücke stürzen. Was der wohl hatte?
Lucian erzählte irgendwas darüber, warum er hier war, und stellte sich vor, dass er auf der Bühne stehen würde. Das half gegen die Nervosität. Er war immer noch zittrig, aber man merkte es ihm nicht mehr an.
Wenn jemand fragt, sage ich die Wahrheit, dachte er. Ich verstecke mich nicht mehr.
Das Mädchen im grauen Top hob die Hand und stellte eine Frage. Nicht die, die er heimlich fürchtete, aber eine, die er genau so wenig beantworten wollte.
»Du warst in dieser Band, oder?«
Er seufzte innerlich. Ach, das. Aber er sagte die Wahrheit, echt und ehrlich. Plötzlich glotzten ihn alle an, als wäre er … irgendetwas, aber auf keinen Fall ein Mensch. Ein Halbgott, hatte John, ihr Sänger, gesagt. Der freute sich über die Aufmerksamkeit. Lucian wäre ganz gern mal wie ein normaler Mensch behandelt worden, aber anscheinend bestand die Welt darauf, ihn entweder als einen Star oder als totalen Dreck zu sehen. Selbst die beiden Blonden wirkten beeindruckt. Nur der Braunhaarige behielt seine deprimierte Miene bei. Lucian mochte ihn.
»Habt ihr euch getrennt, oder warum bist du hier?«, fragte einer der Blonden, in einem schwachen Versuch, ihn zu provozieren. »Also du und deine Band. Du kannst ja schlecht touren, wenn du bei uns bist, oder?«
Lucian schenkte ihm einen verächtlichen Blick. »Wir machen ein Jahr Pause. Wegen dem ganzen Touren haben wir alles andere vernachlässigt. Jetzt müssen wir das erstmal nachholen. John und ich holen das Abi nach, Medos macht seine Ausbildung fertig und Wolf seinen Bachelor. In einem Jahr geht’s weiter.«
»Ach so.« Das Mädel im grauen Top bekam Sternchenaugen. »Dann schreibt ihr neue Songs und so?«
Lucian nickte.
»Über jemand Speziellen?«, fragte sie. Eins der anderen Mädels kicherte spöttisch. Ihre Freundin fiel ein und die im grauen Top wurde rot. Lucian räusperte sich.
»Mal sehen. Kommt drauf an, was bis dahin passiert.« Ups. Klang das, als würde er mit ihr flirten? Ihre Wangen färbten sich noch röter und er fürchtete schwer, dass es so war.
Lucian, du Volltrottel, dachte er.
Als er sich endlich setzen durfte, war sein Rücken schweißnass. Vermutlich sah man es auf dem schwarzen Shirt nicht und außerdem war es eh sauheiß im Raum. Die Luft, die durch die gekippten Fenster drang, schien aus einem Fön zu kommen.
Natürlich hatte er als Neuer einen Platz ganz vorne bekommen. Der bebrillte Typ, der neben ihm saß, starrte ihn den Rest der Stunde über unauffällig an. Immerhin schwieg er.

Die Ruhe währte nur kurz. Kaum war die Stunde vorbei, bildete sich eine Traube um Lucians Tisch.
»Bist du reich?«, fragte ein ausgesprochen hübsches Mädchen. »Ich meine, mit den Touren und so … Habt ihr da viel verdient?« Ihre Augen glänzten wie Goldbarren.
»Leider nein. Bei einem guten Sommer und einem mittleren Hit kommt nicht so viel rum.« Er zuckte mit den Achseln und packte seinen Rucksack. »Dabei hätte ich nichts dagegen, Porsche zu fahren.«
Sie kicherte. »Und deine Freundin?«, fragte sie und strich betont gelangweilt die rotblonden Haare hinters Ohr. »War die traurig, als du so lange auf Tour warst?«
»Ich hab keine Freundin«, sagte Lucian und holte tief Luft. Gleich, dachte er. Du schaffst das, du alter Feigling.
Augen blitzten um ihn herum auf wie Sterne in der Nacht. Gleich.
»Oh.« Die Rotblonde versuchte, betrübt auszusehen. »Wie schade. Hättest du gern eine? Was für Mädchen magst du?«
»Gar keine.« Lucians Eingeweide krampften sich zusammen. Er wusste, dass er äußerlich vollkommen gelassen wirkte, aber innerlich bestand er nur noch aus harter, starrer Anspannung. »Ich mag Männer.«
Schweigen. Sterne erloschen. Irritiertes Blinzeln aus einem halben Dutzend Augenpaaren. Lucian zwang sich, ruhig zu atmen. Er spürte das feuchte Holz unter seiner Handfläche und die nasse Rückseite seines Shirts und die abartige Hitze, die von draußen über seine nackten Arme floss. War es überhaupt so heiß oder lag das an der Aufregung?
»Ach … so.« Dem rotblonden Mädchen schien nichts mehr einzufallen. »Na dann.«
»Und, äh, hattest du in Hamburg einen Freund?«, fragte eine andere schließlich.
Lucian zuckte mit den Achseln. Er war vollkommen fertig von all dieser Ehrlichkeit. Mehr war gerade einfach nicht drin.
»Was haben wir als nächstes?«, fragte er statt einer Antwort.
»Äh. Musik. Aber das ist nicht hier.« Sein bebrillter Nachbar räusperte sich. »Das ist im Musikzimmer.«
»Gut. Bis gleich.« Lucian lächelte und marschierte an ihnen vorbei. Seine Knie fühlten sich an wie nasse Watte, sein Herz wie ein hyperaktiver Wecker. Aber er hatte es geschafft.
Nicht schlecht, dachte er und genehmigte sich einen Seufzer, sobald er aus der Tür getreten war. Nun wussten es schon doppelt so viele Leute wie bisher. Und er hatte keinen Zweifel daran, dass die Zahl sich exponentiell erhöhen würde. Bis morgen wusste vermutlich jeder Bescheid. Und dann?
Es wird nicht wie damals, dachte er. Ganz bestimmt nicht. Das war … Pech. Und selbst wenn, jetzt kann ich damit umgehen. Ich bin jetzt ein Anderer. Ich bin jetzt stärker und der Erste, der mich auch nur blöd anquatscht, kriegt ’nen Nasenbruch vom Feinsten.
Lucian schluckte. Panik drängte seine Kehle hoch. Nein. Es würde diesmal ganz anders werden. Und er würde ehrlich sein.
Er fand die Toilette und kippte sich so lange kaltes Wasser ins Gesicht, bis er wieder ruhig war. Fast ruhig. Ein wenig ruhiger zumindest. Die Glocke läutete. Wo war eigentlich dieses Musikzimmer? Hätte er jemanden fragen sollen, statt cool davonzuschlendern? Warum fiel ihm so etwas immer erst nachher ein?
Etwas hilflos sah er sich im Flur um. Ganz hinten entdeckte er eine kleine Gruppe und registrierte mit Freude, dass er die Gesichter kannte. Es waren das Mädel im grauen Top, zwei andere und der deprimierte Dunkelhaarige. Den fand er eh sympathisch. Der Typ schien gerade in eine hitzige Diskussion mit dem blonden Kerl vor ihm vertieft zu sein.
Lucian näherte sich. Das Mädel im grauen Top bemerkte ihn. Sie tippte dem Dunkelhaarigen auf die Schulter und deutete auf Lucian. Der fuhr herum. Sein Gesicht war knallrot, die Lippen ein weißer Strich. Oh, er hatte Sommersprossen. Ziemlich süß.
»Hi«, sagte Lucian und lächelte.

Neuerscheinungchen: „Schneestürmchen und Glühweinwürmchen“

Es gibt was Neues! Schon im Sommer hat die fabelhafte Jona Dreyer mich eingeladen, an ihrer Weihnachtsanthologie teilzunehmen. Und ich hatte direkt eine Idee, was dazu führte, dass ich bei brütender Hitze über eine Weihnachtsfeier schrieb, die aus dem Ruder läuft. Ich habe mich mit brutalem Extrem-Weihnachts-Playlist-Hören gerettet. Die Story ist eine beknackte Romantikkomödie im Stil von „Diagnose: Depp“ geworden. Also hoffentlich das, was meine Leser wollen. 🙂 Die anderen vier Geschichten in der Anthologie sind natürlich noch viel niedlicher, romantischer und zuckersüßer! Und die anderen Autorinnen (Achtung, Trommelwirbel) sind: Tharah Meester, Sara Pearson, Luzie Engels und natürlich Jona Dreyer!
Das E-Book kann man schon auf Amazon vorbestellen. Am 23. November erscheint es dann. Selbstverständlich gibt es auch ein Taschenbuch und wer auf der BuchBerlin ist, kann es sogar von fast allen Beteiligten signieren lassen. Die Jona hat nämlich den Stand schräg gegenüber von unserem. 🙂

Kleine Leseprobe meiner Story „Rudolf, das unfähige Rentier“
»Scheiß-Kostüm!«, knurrt Balduin und zerrt an seinem roten Mantel herum. »Erzähl mir mal, wie ich damit Sandra aus der Personalabteilung rumkriegen soll.«
»Erzähl mir mal, wie du sie überhaupt rumkriegen wolltest«, sage ich. »Sandra kann dich nicht leiden.«
Im Spiegel der Herrentoilette rücke ich mein Rentiergeweih zurecht, so dass es einen Winkel von exakt 167 Grad hat. Ich habe überprüft, welcher Winkel mich am verwegensten aussehen lässt und das Ergebnis war eindeutig. Leider sehe ich von vornherein nicht besonders verwegen aus, aber, na ja: Ich bin Buchhalter.
»Ach, die tut nur so.« Balduin winkt ab. »Was verstehst du denn von Frauen?«
»Nicht viel«, gebe ich zu. »Aber wenn sie auf dem Sommerfest »versehentlich« ihren Drink auf deine Hose schütten, wollen sie dich los werden.«
»Oder sie wollen dich ohne Hose sehen.«
Ich schaue ihn bedauernd an. Balduin verschränkt die Arme vor seinem ausladenden Weihnachtsbauch. Den weißen Bart hat er sich auf die Stirn geschoben wie ein schlechtes Toupet. Beinahe kann ich mir vorstellen, wie er aussah, als er noch Haare hatte.
»Das war auf dem Sommerfest«, sagt er. »Jetzt ist die Weihnachtsfeier.«
»Und was hat sich deiner Meinung nach in den vergangenen sechs Monaten verändert?«
»Ich …« Balduin schnaubt verächtlich. »Du sei mal ganz ruhig. Ich trau mich wenigstens, meinen Schwarm anzusprechen. Im Gegensatz zu dir, du feiges Rentier.«
»Paarhufer sind Fluchttiere«, murmele ich und sehe zu Boden. Meine rote Nase löst sich und plumpst herunter. »Und es ist schwerer als bei dir … Ich weiß doch nicht mal, ob er auf Männer steht.«
»Kleiner Tipp vom Weihnachtsmann: Das findest du nicht heraus, wenn du nicht fragst.« Balduin wackelt mit den Augenbrauen.
»Mja.« Ich seufze. Dann straffe ich mich, balle die Fäuste und schaue ihm fest in die Augen. »Ich hab’s dir noch nicht gesagt, aber heute traue ich mich. Heute werde ich ihm … Heute sage ich Nick, dass … Also zumindest will ich ihn fragen, ob wir mal was trinken gehen.«
»Was, echt? Ich dachte, du trinkst nicht.«
»Nur selten.« Ich räuspere mich. »Ich schätze den Kontrollverlust nicht. Und außerdem muss ich deinen besoffenen Arsch dauernd nach Hause fahren, also kann ich nie …«
Frau Grobenolmer, die Personalchefin, steckt den Kopf in die Herrentoilette.
»He, Weihnachtsmann! Rudolf! Bereit, Frohsinn zu verbreiten, ihr Eumel?«
Die hat eindeutig schon vom Weihnachtspunsch schnabuliert. Ihre Nase ist röter als meine. Also meine falsche.
»Immer!, grunzt Balduin. »Oder, Rudi?«
»Rudolf.« Ich hasse Verniedlichungen. Nach 5 Jahren Freundschaft sollte Balduin das eigentlich kapiert haben. Hat er aber nicht.

Zu Josh: Das Buch hat eindeutig die sich am langsamsten entwickelnde Romanze, die ich seit meinen Anfängen geschrieben habe. Und damals habe ich mich einfach nicht getraut, so früh mit Romantik (und Erotik) loszulegen. Also warum habe ich so viel Spaß? Liegt es daran, dass ich die Charaktere so sehr mag? Sollte ich die mögen? Oder sollte ich ihnen lieber furchtbare Dinge antun? Aber das kann ich gerade nicht und ich mag diese langsame, alberne Schnulze. <3

Und ich habe das Bloggen sträflich vernachlässigt … 🙁 Inzwischen bin ich schon 10.000 Wörter weiter als beim letzten Post.

Wordcount heute: 2.774 Wörter (bisher)
Wordcount „Josh“ insgesamt: 34.309 Wörter

Lieblingsstelle:
Lucien seufzte. »Josh. Mach dir keinen Kopf. Das wird alles. Wirst sehen, in einem halben Jahr oder so denkst du an die ganzen Sorgen zurück und lachst dich tot.«
»Meinst du?«
»Na klar. Dann hast du eine total liebe Freundin und schaust dir Kunstunis in ganz Europa an und … Was immer du noch machst. Du schaffst das.«
»Danke.« Joshs Stimme klang so rau, dass Lucien seine Arme ausbreitete und ihn angrinste. Hatte eigentlich nur ein Scherz werden sollen, aber Josh warf sich hinein.
Er klammerte sich an Luciens nacktem Rücken fest, als würde nur dessen Körper ihn über Wasser halten. Ups. Vorsichtig schloss Lucien die Arme um Josh. Sehr vorsichtig. Er spürte die glatte, warme Haut und die Rippen und Muskeln und die Wirbelsäule und … Durfte er das? Sollte er irgendwie … klopfen oder reiben oder lieber gar nichts tun? Konnte Josh spüren, wie hart sein Herz gerade hämmerte? Konnte jemand sie im Dunkeln sehen? Das … war doch keine Falle, oder? Aber Josh würde doch nicht …
Hitze breitete sich in Luciens Körper aus.
Mist, dachte er. Das war ein Fehler.

Veröffentlichung! Nanowrimo! Ahhhh!!!!!

Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll! Also: Shirley und Gwen sind seit heute offiziell erschienen UND haben es gleich an die Spitze der „Lesbenromantik“-Charts geschafft. 🙂 Herzlichen Glückwunsch, Mädels! Und bei all den Lesern und Leserinnen, die meinten, es würde ihre erste Lesbenromanze, bin ich SEHR gespannt auf die ersten Rezensionen. Vielleicht sollte ich lieber Angst haben, aber darauf habe ich gerade keine Lust. 🙂

Denn es ist Nanowrimo! NANOWRIMO!!! Die schönste Zeit des Jahres. 🙂 Seit heute! Und ich schreibe das Buch, auf das ich fast ein Jahr warten musste: Josh. Keine Ahnung, ob das so besonders toll wird, ich weiß nur, dass ich mich mehr darauf freue als auf Weihnachten. Ich liebe die Story einfach und bin SO glücklich, die nächsten Tage und Wochen mit Josh und Lucien und Joshs Familie zu verbringen. Bisher macht es sauviel Spaß, dabei ist Josh todunglücklich. Aber das wird ja irgendwann besser. Armer Kerl …

Wordcount heute:  2.849 Wörter (bisher)
Wordcount „Josh“ insgesamt: 2.849 Wörter

Lieblingsstelle:
Der Neue betrat die Klasse und Josh wusste, dass er ein Problem hatte. Nein, eigentlich wusste er es zwei Sekunden später, als er Anna leise keuchen hörte. Anna mit den wunderschönen Bernsteinaugen und der süßen Stupsnase. Anna, in die Josh seit Monaten verliebt war. Leider war sie nicht in ihn verliebt. Wirklich nicht. Er hatte sie gefragt. Und ihre Antwort war genau die gewesen, die er gefürchtet hatte.

„Na ja.“ Sie hatte, halb erfreut, halb peinlich berührt zu Boden gesehen, als er ihr seine Gefühle gestanden hatte. Bei der Silvesterparty von Dean. Lärm, Rauch und bierseliges Grölen waren bis in das Nebenzimmer gedrungen, in dem sie gestanden hatten „Weißt du, Josh, du bist nett, aber … mehr so wie ein Bruder oder ein … Kumpel. Sorry, ich weiß, wie das klingt. Und, na, du weißt schon.“
„Was weiß ich?“, hatte Josh hervorgebracht, obwohl sein Brustkorb sich angefühlt hatte, als hätte Anna die Rippen auseinandergebogen und sein Herz mit einem Akkuschrauber bearbeitet.
Sie fuhr sich durch die wunderschönen braunen Haare. „Ich hätte eh Angst, dass du nachher doch schwul bist.“
„Ich bin nicht schwul“, hatte er gekrächzt, ungefähr zum hunderttausendsten Mal in seinem Leben.
„Deine ganze Familie ist schwul.“
„Gar nicht wahr“, hatte er gesagt. „Meine Schwester ist lesbisch.«
Anna hatte ihn angesehen, als würde das ihre Argumente noch bekräftigen. Ihr niedlicher Mund hatte sich verzogen und sie hatte sich die echt superhübschen Augen gerieben.
„Ich könnte einfach nie sicher sein. Und … du weißt schon.“
Er wusste es wieder nicht. „Was?“
„Na, du siehst irgendwie aus wie so ein Rothaariger.“
Josh hatte sich eine Strähne seines Haares vor die Augen gezogen, um zu überprüfen, ob sie in den letzten Stunden spontan die Farbe gewechselt hatten. Immer noch dunkelschlammbraun
„Ein Rothaariger, der sich die Haare gefärbt hat“, beeilte sie sich, zu sagen. „Mit deinen Sommersprossen und so. Ich meine, das ist nicht schlimm, aber … irgendwie nicht sexy.“
„Oh.“
„Und außerdem …“
Josh war zurück auf die Party getaumelt, bevor ihr noch mehr Mängel einfallen konnten. Zwischen den lärmenden und saufenden Leuten, die auf das neue Jahr angestoßen hatten, war er auf einen Sessel gesunken und hatte versucht, nicht zu heulen. Hatte fast geklappt. Zum Glück war die Luft so rauchgeschwängert gewesen, dass es eventuell niemand mitbekommen hatte. Dean war vorbeigetorkelt und hatte ihm gewünscht, dass er im nächsten Jahr endlich einen netten Kerl kennenlernen würde. Am besten schnell. Josh wusste, dass Dean mit allen möglichen Leuten eine Wette darüber abgeschlossen hatte, wann Josh sich endlich outen würde. Anscheinend hatte er auf Anfang Januar getippt.
Es war eine beschissene Art gewesen, das neue Jahr zu beginnen.

 

Kleine Vorschau auf „List und Liebe“

Endlich ist es soweit. 🙂 Shirleys Band ist korrigiert, testgelesen, hat ein Cover und sogar einen Namen. Den habe ich gestern nach einer Last Minute-Facebook-Umfrage festgelegt. Über manche Dinge sollte man nicht zu lange nachgrübeln.Vielen Dank an alle, die mitgeholfen haben!

Nun ist das E-Book auf Amazon vorbestellbar. Eine große Bekanntmachung gibt es am Ersten, wenn es richtig erscheint. Weil es bis dahin auch keine Leseprobe auf Amazon gibt, poste ich hier mal zwei Kapitel für alle Unentschlossenen. Eins vom Anfang und ein etwas späteres, in dem sämtliche Winter-Geschwister eine gesittete Unterhaltung führen. Oder das, was sie dafür halten.

1. Shirley

Gwendolyn Ophelia Luise von Rieke-Rothaus hielt ein Referat. Leider.
»Na ja, und dann sind sie nach …« Sie sah auf die Notizen in ihren perfekt manikürten Händen. Ihr süßes Gesicht verzog sich, als sie versuchte, die eigene Handschrift zu entziffern. »Dann sind sie nach Teneriffa gesegelt und dann haben sie den Äquator überquert und, äh, dann sind sie in Südamerika angekommen und dann …« Sie zwirbelte eine blonde Strähne zwischen den Fingern. »Na, den Rest könnt ihr euch denken, nicht wahr?«
Gwen lächelte. So strahlend, dass Shirley ein leises Seufzen von rechts vernahm. Luis‘ Seufzen. Der verschlang Gwens schlanke Gestalt mit den Augen. So wie jedes männliche Wesen in der Klasse, aber Luis war ein besonders hoffnungsloser Fall. Seit Gwen ihm im letzten Jahr die Ehre gewährt hatte, zwei Wochen lang ihr Freund zu sein, schmachtete er sie an. Shirley fragte sich ernsthaft, warum. Seit der Sache mit Luis hatte Gwen mindestens vier ebenso kurzfristige Beziehungen gehabt. Außerdem hatte sie dreimal die Sportart gewechselt, sieben neue Frisuren ausprobiert und zwei Fremdsprachen angefangen.
Kurzzeitig war sie in Shirleys Spanischkurs gewesen, bis sie die Lehrerin überredet hatte, dass sie zu Japanisch wechseln durfte. Gwen kam mit so etwas durch. Ein unschuldiger Augenaufschlag, ein Lächeln, das ihre Grübchen zum Vorschein brachte und alle taten, was sie wollte. Sie meinte es ja nicht böse. Sie war einfach jemand, der schnell das Interesse verlor.
Das Referat hatte übrigens spannend begonnen. Gwen hatte voll Leidenschaft von Magellans Kindheit erzählt, davon, wie er in einer verarmten Adelsfamilie aufgewachsen war, wie früh seine Eltern gestorben waren und wie er sich trotz aller Widrigkeiten hochgekämpft hatte. Aber schon, als er den ersten Kapitänsposten erreicht hatte, war ihre Stimme monotoner geworden und sie hatte immer öfter in ihre Notizen schauen müssen. Die nun anscheinend zu Ende waren.
»Das war’s.« Gwen lächelte. Warmes Herbstlicht fiel durch die Fenster auf ihre goldenen Haare und ihre graublaue Schuluniform. Sie sah aus, als wäre sie einem Werbeprospekt entstiegen. Es war ein bezauberndes Bild, wie sie vor der Tafel stand, in dem hellen Raum mit den stuckverzierten Decken, strahlend schön und aufgeweckt. Kurz: die ideale Schülerin. Ihre Frisur saß perfekt, ihre Haltung war elegant und sie erzählte völligen Schwachsinn. »Der Ferdinand hat die Welt umsegelt und, äh, alles wurde gut und er lebte glücklich bis an sein Lebensende.«
Herr Wuller sah Gwen ungläubig an. Selbst der langwimprigste Augenaufschlag würde sie jetzt nicht mehr retten.
»Bis an sein Lebensende?«, fragte Wuller. Seine Stimme triefte vor Sarkasmus.
Gwen nickte und machte Häschenaugen.
Shirley überlegte, ob sie Gwen irgendein Zeichen geben konnte. Ihr irgendwie verständlich machen konnte, dass ihre Version der Realität nicht ganz mit der in den Geschichtsbüchern übereinstimmte. Aber sie tat es nicht. Nicht nur, weil Gwen darauf bestand, Magellan »den Ferdinand« zu nennen. Shirley war immer noch sauer auf sie. Dieses Püppchen hatte ihr die erste Drei in ihrer gesamten Schullaufbahn eingebrockt. Also verschränkte Shirley die Arme, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, und beobachtete, wie Gwen vorne an der Tafel ins Schwitzen geriet.
»Wurde wirklich alles gut für Magellan?«, bohrte Wuller weiter und ließ die Fingernägel über sein Pult tanzen.
Gwen überlegte fieberhaft. Nachdenklichkeit stand ihr gut, so wie eigentlich alles. Leise Panik huschte über ihr Engelsgesicht.
»Nein, also, er …« Sie sah in die Klasse, auf der Suche nach Rettung. Es gab keine. »Natürlich war er nicht immer glücklich. Er, äh, also seine Ehe ist in die Brüche gegangen, weil er so viel unterwegs war?« Sie sah Wuller fragend an.
Der verdrehte die Augen. »Nein.«
»Er war immer sehr traurig, weil er eine Glatze hatte? Ich meine, der Hut kaschiert das ganz gut, aber …«
»Nein.«
»Die anderen Matrosen haben ihn geärgert, weil er Ferdinand hieß? Ich weiß auch nicht, was seine Eltern sich dabei gedacht haben …« Ihre Stimme verklang.
»Nein.« Herr Wuller seufzte. »Kann jemand Frau von Rieke-Rothaus erklären, warum Magellans Weltumseglung kein Happy End hatte?«
Shirley hasste sich ein wenig, weil sie als Einzige die Hand hob.
Abiturnote 1,0, sagte sie sich. Abiturnote 1,0. Keine Rücksicht.
»Frau Winter?« Wuller nickte ihr zu.
»Er starb, bevor sie endete«, sagte sie. »Im April 1521 wurde er bei einem Kampf mit den Einheimischen von Mactan getötet. Er bekam eine Lanze ins Gesicht und eine unter den rechten Arm und war vorher schon von einem vergifteten Pfeil durchbohrt worden.« Die blutigen Details waren ihr die liebsten. »Die Weltumseglung wurde zwar abgeschlossen, aber ohne ihn. Von 237 Mann und fünf Schiffen, die gestartet waren, kamen nur 18 Mann und ein Schiff zurück.«
»Genau«, sagte Wuller.
»Oh nein«, sagte Gwen. »Der arme Ferdi.«
Wuller schaute sie an, als hätte sie gefurzt. Eigentlich ganz nett von Gwen, dass sie Mitleid mit einem Kerl hatte, der vor über 500 Jahren verstorben war.
»Frau von Rieke-Rothaus, wie weit haben Sie das Buch, das sie vorstellen sollten, gelesen?«, fragte er. Seine Stimme schnitt durch die Luft wie ein Rasiermesser. »Anscheinend nicht bis zum Ende, oder?«
»Nein.« Gwen sah zu Boden. »Tut mir leid. Der Anfang war super, aber dann … Also, es wird schon etwas öde und … Dann habe ich angefangen, Hockey zu spielen und meine ganze Zeit ist für das Training draufgegangen.« Sie hüstelte.
Wullers Miene wurde immer finsterer. Unangenehmes Schweigen hing im Raum, drückend wie ein heranziehendes Gewitter.
»Frau von Rieke-Rothaus, wenn Sie in der zwölften Klasse«, er wurde lauter, »noch nicht in der Lage sind, ein Buch zu beenden, für dessen Lektüre Sie DREI WOCHEN ZEIT HATTEN …«
»Genau genommen hatte Magellans Geschichte ein Happy End«, platzte Shirley heraus. Irgendjemand musste etwas tun, sonst würde der Rest der Stunde daraus bestehen, dass Wuller Gwen anbrüllte. Und da sich mal wieder keine der reichen Gören dazu herabließ … »Ich meine, seine Expedition hat als erste die Welt umsegelt, auch wenn nicht alle Teilnehmer lebend ankamen. Sie haben endgültig die Kugelform der Erde bewiesen, die bis dahin immer noch angezweifelt wurde und deshalb hat sein Name die Jahrhunderte überdauert und … das ist doch was. Außerdem wurde die Magellanstraße nach ihm benannt, er ist also quasi unsterblich geworden, auch wenn er, na ja, gestorben ist.«
Sie versuchte, überzeugend zu schauen. Wullers Gewittermiene glättete sich. Ein wenig. Ein ungläubiges Schnauben entkam seinen Nasenlöchern.
»Das könnte man so sehen«, brummte er. »Wenn man die Geschichte sehr großzügig auslegt. Fakt ist aber, dass Frau von Rieke-Rothaus erneut die ihr gestellte Aufgabe nicht erfüllt hat.«
»Der Anfang war korrekt.« Shirley, du solltest einfach die Klappe halten, dachte sie. Einfach die Klappe halten. Aber darin waren die Mitglieder ihrer Familie nie besonders gut gewesen. »Dafür sollte sie ein paar Punkte bekommen, oder?«
Wuller sah sie an, als wäre sie vollkommen bekloppt.
»Die Punkte vergebe ich, Frau Winter«, knurrte er. Das war es wohl mit Shirleys Lieblingsschüler-Status gewesen. »Von Rieke-Rothaus, Sie bekommen sieben Punkte, weil ich ein gnädiger Lehrer bin. Setzen Sie sich.«
Gwen duckte sich und huschte an ihren Platz zurück. Leise seufzend ließ sie sich neben Shirley nieder.
»Danke«, flüsterte sie. »Ich hab gedacht, gleich reißt er mir den Kopf ab.«
Ihr Atem kitzelte Shirleys Ohr und der dezente Duft ihres Parfüms zog herüber. Vanille und Sandelholz. Shirley sah stur nach vorne.
»Bitte«, flüsterte sie.
»Weißt du«, wisperte Gwen in ihr Ohr, »ich wollte echt weiterlesen, aber mir sind immer die Augen zugefallen und irgendwie habe ich es total vergessen, bis gestern Abend …«
»Von Rieke-Rothaus! Folgen Sie dem Unterricht?«, brüllte Wuller.
»Nei… äh, ja. Natürlich.« Gwen richtete sich auf und versuchte, aufmerksam zu schauen. Sie wirkte wie ein Kindergartenkind, das so tat, als wäre es schon eine richtige Schülerin. Shirley schüttelte innerlich den Kopf.

***

Sobald der Geschichtsunterricht vorbei war, strahlte Gwen wieder.
»Danke nochmal!« Sie haute Shirley erstaunlich kräftig auf die Schulter. »Das war so supernett von dir!« Anscheinend hatte sie schon vergessen, dass Shirley ihr ganzes Streberwissen über Magellan ausgebreitet und sie bloßgestellt hatte. Noch mehr, als Gwen sich selbst bloßgestellt hatte.
Shirley brummte irgendetwas Undeutliches.
»Reiten wir mal wieder aus, Shirley?«, fragte sie. »Das haben wir schon so lange nicht mehr. Hast du heute Nachmittag Zeit?«
»Nein, ich muss lernen«, sagte Shirley. Das stimmte ja auch.
Ein Schatten flog über Gwens Gesicht. »Oh. Okay. Also, vielen Dank für die Rettung. Bis später!« Schon lächelte sie wieder. Sie schnappte sich ihre Burberry-Tasche, hüpfte zu den anderen Klassenprinzessinnen hinüber und schnatterte mit denen, bis sie gemeinsam aus der Tür verschwunden waren.
Dom tauchte neben Shirleys Pult auf.
»Lernt sie überhaupt mal?«, fragte er. Zweifelnd sah er der Mädelstruppe mit den hochglanzpolierten Haaren nach. »Ihr Referat über Effi Briest lief genauso.«
»Glaub kaum. Ich verstehe immer noch nicht, wie sie es bis in die Zwölfte geschafft hat, ohne sitzenzubleiben.«
»Charme, gutes Aussehen und reiche Eltern.« Dom lächelte. »So wie du.«
Shirley schnaubte. Witzig. Sie besaß exakt nichts davon. Das Einzige, was sie hatte, war ihr Gehirn, und das trainierte sie gerade wie ein Bodybuilder seinen Bizeps.
»Lernen wir heute?«, fragte sie und wie immer nickte Dom.
Als sie gemeinsam durch den Flur gingen, bemerkte Shirley, dass eine entgegenkommende Gruppe Mädchen ihnen böse Blicke zuwarf. Nein, nicht ihnen. Ihr. Dom schauten die Mädchen an, als hätte er eine Schokoglasur mit Zuckerherzen. Wie üblich. Und wie üblich duckte er sich unangenehm berührt, bis sie an denen vorbeigegangen waren.
»Hab ich was im Gesicht?«, murmelte er unbehaglich. »Nein, oder?«
»Doch, hast du«, sagte Shirley. Sie hob ihre Stimme zu einem verzückten Quietschen. »Strahlende Schönheit. Freu dich doch. Andere Jungs würden Werweißwas dafür geben, so angesehen zu werden.«
»Hmja, toll.« Dom sah zu Boden. Der arme Kerl. Er konnte ja nichts dafür, wie er aussah. Wie einer von diesen Boygroup-Boys, mit weichen, welligen Haaren, seelenvollen dunklen Augen und einem Gesicht, das vollkommen symmetrisch war. Symmetrie war Schönheit, das hatte Shirley gelesen. Der perfekte Abstand zwischen Augen, Nase, Mund und Kinn, sowie deren Größe im Verhältnis zum Rest. Wieder ein Beweis, dass man alles berechnen konnte.
»Ist ja nicht deine Schuld, dass du hübsch und reich bist.« Shirley versuchte, nicht zu lächeln. »Du armes Häschen.«
»Klappe.« Er grinste. »Und ich bin überhaupt nicht reich.«
»Ne, aber dein Vater ist der drittreichste Mann von Ebernau.«
»Der viertreichste. Und Ebernau ist nicht sehr groß.«
»Immerhin groß genug, dass sich diese Bonzenschule hier lohnt.«
Er hob gespielt vornehm eine Augenbraue. »Diese exklusive Privatschule, meinst du.«
»Bonzenschule für nichtsnutzige Gören.«
»Was verstehst du denn davon, du Stipendiatin?« Er zog an ihrem Pferdeschwanz. Ein braunhaariges Mädel, das an der dunklen Wandtäfelung lehnte, warf Shirley den vernichtendsten Blick zu, den sie heute empfangen hatte.
»Kann nicht verstehen, was er an ihr findet«, hörte Shirley sie zischen. Das verstand niemand. Nicht mal sie selbst war sich ganz sicher, warum Dom ausgerechnet mit ihr befreundet war.
Sie hatte nicht damit gerechnet, überhaupt Freunde zu finden, als sie auf die Wilhelmine-von-Grävenitz-Privatschule gewechselt war. An ihrer alten Schule hatte sie es genau zu einem Freund gebracht: ihrem Zwillingsbruder. Alle anderen hatten sie eine biestige Streberin genannt, allerdings nur hinter ihrem Rücken. Wenn man wie Shirley drei Brüder hatte, lernte man, auszuteilen.
Aber Dom war immer wieder bei ihr angekommen und hatte versucht, mit ihr zu reden. So lange, bis sie beschlossen hatte, dass er vertrauenswürdig war. Und das, obwohl er unter all den verwöhnten Söhnchen hier eins der reichsten war. Seinem Vater gehörte eine Restaurantkette, die Filialen in fast allen Städten der Umgebung hatte. Er war in einem gigantischen Anwesen aufgewachsen und von den besten Kindermädchen aufgezogen worden. Shirley betrachtete seine schwarzen Schuhe. Feinstes italienisches Leder. Vermutlich. Was verstand sie davon? Genau: nichts.
Doch auf seine Art hatte Dom genau so viele Probleme wie sie. Die Mädchen mochten ihn, obwohl er nicht auf Mädchen stand und die Jungs waren sauer, weil die Mädchen hinter ihm her waren. Wenn die wüssten … Seit Valentin bei Luzia abgeblitzt war, weil die auf Dom stand, hatte der das halbe Hockeyteam als Feind. Und dann war Dom in einer Umfrage auch noch zum schönsten Jungen der Schule gewählt worden. Mit Abstand.
»Ich sag’s ihnen«, flüsterte er, als hätte er ihre Gedanken gehört. Sie musste nicht mal fragen, was, so oft hatten sie das Gespräch schon geführt. »Bald. Ich … ich muss mich nur erst mental vorbereiten. Ich will nicht, dass sie dich weiter so behandeln.«
»Mir ist egal, wie die mich behandeln.« Shirley grunzte undamenhaft. »Ich glaub kaum, dass die netter zu mir werden, wenn rauskommt, dass wir wirklich nur Freunde sind. Ich meine, wir sagen ihnen ja, dass da nichts zwischen uns läuft und sie glauben es nicht. Warum soll sich das ändern«, sie senkte die Stimme, »sobald du dich outest?«
Er schenkte ihr einen dankbaren Blick. Und stolperte. Einer der Hockeyspieler, die ihnen entgegenkamen, hatte ihn geschubst. Marten van Meddel. Sein Gesicht war zu einem höhnischen Grinsen verzogen.
»Weichei«, hörten sie im Vorbeigehen. »Schönling.«
Shirley wirbelte herum, aber Dom packte ihren Arm.
»Nicht«, warnte er. »Lass ihn reden, was er will. Mir ist nichts passiert und das ist er nicht wert.«
»Überhaupt nichts ist der wert«, knurrte Shirley. »Und er braucht ’ne Abreibung, sonst denkt er, er kommt immer mit dem Scheiß durch.«
»Eine Abreibung? So eine wie Daniele letztes Mal?« Dom zog sie mit sanfter Gewalt weiter. Marten und seine dämlichen Freunde, die ihm lachend auf die Schultern hauten, verschwanden um die nächste Ecke. »Ich will nicht, dass du schon wieder suspendiert wirst, Shirl.«
»War doch nur eine Woche«, sagte sie, obwohl er eigentlich recht hatte. Sie durfte ihr Abi nicht nochmal gefährden.
»Eine Woche und eine dreißigseitige Strafarbeit.«
»Über die Verbreitung der Pest auf der Seidenstraße. Das hat sogar Spaß gemacht. Genau wie Daniele das Buch auf die Nase zu hauen.«
»Das Buch? Das war die Herr-der-Ringe-Gesamtausgabe.« Dom schüttelte den Kopf. »Der kann froh sein, dass er noch ein Gesicht hat. Und alles nur, weil er mir ein Bein gestellt hat.«
»Vor der Treppe. Der hätte dir das Genick brechen können.«
»Dafür sind meine Reflexe zu gut«, sagte Dom gleichmütig. »Ich habe keinen Kratzer abgekriegt.«
»Ich versteh dich nicht.« Shirley war nicht ganz klar, ob sie Dom bemitleidete oder bewunderte. Vielleicht beides. »Wenn ich du wäre, würde ich jedem, der so einen Scheiß labert, die Nase brechen. Du machst doch Taekwondo, warum wendest du das nicht an?«
»Das wäre nicht sehr nett.«
»Nervensägen wie Daniele und Marten sind nicht nett. Ich bin nicht nett. Und du solltest auch nicht nett sein.«
»Eben hast du Gwen geholfen. Das war ziemlich nett, würde ich sagen.« Dom öffnete die Tür des Musikzimmers und sah sie an. Seltsamer Blick. Als wüsste er etwas, das sie nicht wüsste. So ein Blödsinn.
»Gar nicht«, motzte sie. »Ich wollte nur nicht, dass Wuller sie bis zum Gong anschreit. Das würde das Püppchen nicht verkraften.«
»Ach, das Püppchen ist ein Stehaufmännchen.« Dom warf sich auf seinen Platz und Shirley setzte sich neben ihn. »Und sie mag dich. Warum freundest du dich nicht mit ihr an? Dann hättest du es hier bestimmt leichter.«
»Nach unserem Referat? Niemals.« Shirley schleuderte ihren Collegeblock auf das Pult und lehnte sich in ihrem ergonomischen Stuhl zurück. Wie jeder Stuhl in der Wilhelmine-von-Grävenitz-Schule schmiegte er sich an ihren Hintern, als wäre er nur für ihn geschnitzt worden. »Wegen ihr habe ich eine Drei bekommen. Ich habe noch nie eine Drei bekommen.«
Dom schwieg. Eh besser, der Musiklehrer betrat gerade das Klassenzimmer. Trotz des trüben Wetters draußen war der Raum warm und gemütlich. Mit den hohen Fenstern und den weißen Vorhängen sah er eher wie ein Vortragssaal als wie ein Klassenraum aus. Die Luft roch nach altem Holz und Parkettpolitur.
Diese Drei würde sie Gwen nie verzeihen. Wenn die gelernt hätte … Wenn die ihren Teil erledigt hätte, hätte Frau Iretzka ihnen nicht diese beschissene Gemeinschaftsnote gegeben.
Mit neu entfachter Wut schaute Shirley zu Gwen hinüber, die gerade mit ihrer Freundin Emily redete und gleichzeitig kleine Zöpfchen in ihre Haare flocht. Der Musiklehrer ermahnte sie, zuzuhören. Gwen schaffte es, drei Minuten lang stillzusitzen, dann begann sie, auf ihrem Collegeblock herumzukritzeln. Shirley erkannte Herzchen und Blumen, die aussahen, als hätte ein Kindergartenkind sie gezeichnet. Ein verträumter Ausdruck war auf Gwens Gesicht erschienen.
Konzentrier dich, du Püppchen, dachte Shirley. Wir sind nicht zum Spaß hier.

Kapitel 17

»Hier, für euch.« Marc grinste breit und stellte je einen Becher Glühwein vor Shirley und Josh.
»Aber für jeden nur einen«, sagte Nils streng und setzte sich gegenüber. Marc warf sich so schwungvoll neben ihn, dass sein Tonbecher fast überschwappte.
Josh sah mit leuchtenden Augen auf seinen Glühwein. Weißer Dampf kringelte sich hoch, scharf und würzig duftend. Nelke und Zimt und Alkohol. Ziemlich viel Alkohol, wenn Shirley das mit ihrer begrenzten Erfahrung richtig einschätzen konnte.
»Ist das mit Schuss?«, fragte sie misstrauisch. Marcs Grinsen wurde noch breiter.
»Jupp. Nur das Beste für meine kleinen Geschwister.«
»Danke.« Josh strahlte.
»Bitte«, sagte Marc. »Ist dafür, dass ihr uns die Plätze freigehalten habt.«
»Wir sind minderjährig und sollten keinen harten Alkohol bekommen«, murrte Shirley. Nils brummte etwas Zustimmendes.
»Ach, das verfliegt eh bei der Hitze.« Josh setzte den Becher an den Mund und trank ihn in einem Zug halb leer. »Lecker!«
»Auf uns!« Marc hob seinen Becher. »Die beste Familie von Ebernau!«
»Auf uns!«
Die Becher klangen dumpf, als sie aneinanderstießen. Das Geräusch war so leise, dass man es kaum hörte. Dabei hatte die Band gerade Pause. Auf der mit Lichterketten geschmückten Bühne fanden die Umbauarbeiten statt. Doch auf den restlichen Festbänken saßen dichtgedrängt Leute, die halb in ihren Winterklamotten verschwanden und sich so laut unterhielten, dass ein beständiger Geräuschteppich entstand. Irgendwie beruhigend.
Shirley nestelte an ihren Ärmeln herum, damit die eisige Luft nicht mehr in den Spalt zwischen Jacke und Handschuh dringen konnte. Der Himmel über ihnen war schwarz. Die Stände waren so üppig mit bunten Lichtern geschmückt, dass man keine Sterne erkennen konnte.
So friedlich wie selten saßen die Winter-Geschwister unter den anderen Gästen und nippten an ihren Bechern.
»Wann fängt die Energizonic-Tour an?«, fragte Nils Marc.
»Am fünfzehnten. Das Hotel ist schon gebucht.« Er schüttelte den Kopf. »Flo hat sogar irgendein Restaurant gefunden, das wir unbedingt auskundschaften müssen.«
»Du meinst leerfressen«, sagte Nils.
»Das ist mein Plan.« Marc nahm einen Schluck Glühwein. »Flo ist auf der Suche nach neuen Gerichten für Maries Restaurant.«
Josh kicherte. Seine Wangen waren bereits gerötet und sein Tonbecher leer.
»Was hast du, Zwerg?« Marc hob eine Augenbraue.
»Du sprichst ihn so lustig aus.« Josh schüttelte den Kopf. Er machte seine Stimme weich wie Zuckerwatte. »Flooooo …«
Shirley prustete los. Ups. Wieso fühlte ihr Kopf sich so leicht an?
»Flooo …«
»Klappe, du Zwerg. Ich kann über meinen Freund reden, wie ich will.«
»Flooo«, säuselte Shirley, im Chor mit Josh. Dann schüttelte sie den Kopf. »Sei nicht so gemein zu Marc. Er ist halt verliiiebt.«
»Saupeinlich verliebt. In Flooo.« Josh kicherte und Shirley konnte nicht anders als mitzumachen.
»Was zur Hölle hast du in den Glühwein gemixt?«, fragte Nils Marc.
»Nur Korn.« Marc wirkte verstimmt. »Wusste ja nicht, dass die beiden Jungfrauen gleich anfangen zu nerven. Kriegt erst mal selbst wen ab, bevor ihr euch über andere Leute lustig macht.«
Josh verzog das Gesicht. Er hasste es, wenn Marc ihn so nannte. Vor allem, weil es stimmte. »Ich arbeite daran«, brummte er. »Und Shirley auch.«
Was? Shirley packte ihren Becher fester.
»Was?!« Ihre großen Brüder sprachen so gleichzeitig, wie sonst nur sie und Josh. Ups. Plötzlich durchbohrten zwei Paar hellgrüne Augen sie von der anderen Seite des Tisches aus.
»Gar nicht«, behauptete sie und versuchte, sich hinter dem Glühweinbecher zu verstecken. Dieser dämliche Josh! »Da ist niemand.«
»Niemand. Absolut niemand.« Josh nickte hastig. Schuldbewusstsein erfüllte sein Gesicht. Mist, der war der schlechteste Lügner, den sie kannte. Noch grottiger als sie und Dom.
»Shirley.« Nils nahm ihr den Becher aus der Hand. Toll, nun hatte sie nicht mal mehr was zum Festhalten. »Gibt es da jemanden?«
»Neinnein. Gib mir den Wein zurück.« Sie angelte danach, aber er hielt ihn über ihren Kopf. Keine Chance. Nils‘ Arme waren einfach zu lang. »Mann, Nils, seh ich aus, als wäre ich hinter irgendwem her? Dafür kennst du mich doch zu lange, oder?«
»Sie war in letzter Zeit anders. Noch seltsamer als sonst.« Marc kratzte sich am Kinn. Sie saßen ihr gegenüber wie zwei Polizisten beim Verhör. Zwei blonde Riesen.
Guter Cop, böser Cop, dachte sie und unterdrückte ein Kichern. Nur dass beide böse aussahen. Normalerweise war Nils der Verständnisvolle.
»Raus mit der Sprache«, verlangte Nils. »Wer ist es?«
»Niemand.« Shirley verschränkte die Arme, was in der dicken Winterjacke gar nicht so leicht war. »Da ist keiner.«
»Ich wette, es ist Dom«, sagte Marc nachdenklich. »Den sollten wir uns mal vornehmen.«
»Sollt ihr nicht«, fauchte sie.
»Doch, ich glaube, das ist eine gute Idee.« Nils reichte ihr den Becher zurück und machte Anstalten, aufzustehen. »Ich hab ihn vorhin bei der Schießbude gesehen.«
»Ihr bleibt sitzen!« Shirleys Stimme schallte über den ganzen Platz. Oh. Gespräche verstummten. Immerhin blieben Marc und Nils, wo sie waren. »Bleibt sitzen«, wiederholte sie leiser. »Wenn ihr Dom auch nur ansprecht, rede ich nie wieder ein Wort mit euch, ist das klar? Nie wieder.«
»So wichtig ist dir der Schönling?« Marc rümpfte die Nase. »Der ist doch nichts für dich. Wenn der dir das Herz bricht …«
Statt weiterzureden, ließ er die Knöchel knacken. Nils schaute, als stellte er sich gerade vor, Doms Genick zu brechen wie einen trockenen Zweig.
»Der bricht mir nicht das Herz«, zischte sie. »Und jetzt hört auf, euch wie Dorftrottel zu benehmen. Das ist meine Sache und … Warum regt ihr euch nicht über Josh auf? Der ist schließlich auch hinter irgendwem her.«
»Das klappt doch eh nicht.« Marc winkte ab.
»Hey!« Josh knallte seinen leeren Becher auf den Tisch.
»Shirley, du bist unsere Schwester.« Nils klang trügerisch sanft. »Wir müssen dich beschützen.«
»Einen Scheiß müsst ihr.« Sie stieß ein Knurren aus. Gut, so langsam wurde sie wütend auf die beiden Trottel. Und auf Josh auch, den Verräter. »Ihr müsst mich nicht anders behandeln als ihn! Das ist total sexistisch!«
»Wir behandeln dich nicht anders, weil du ein Mädchen bist«, sagte Nils. Er versuchte, aufrichtig zu schauen, aber das misslang. »Du bist halt zarter und … äh, schwächer und … sensibler als …«
Marc prustete los. Dieser Depp. Josh kicherte und selbst auf Nils‘ Gesicht breitete sich ein Grinsen aus.
»Ach ja, die arme, sensible Shirley.« Marc klang, als hätte er Schluckauf. »So schüchtern und verletzlich. Ein zartes, zartes Reh …«
»Arschkopf.« Shirley packte ihren Becher und trank ihn mit einem Zug leer. Der Alkohol stieg ihr sofort in den Schädel. »Dass ich bin, wie ich bin, liegt vielleicht daran, dass ich mich immer gegen euch Trottel wehren musste.«
»Stimmt, das war ganz furchtbar.« Marc sah sie übertrieben mitleidig an. »Weißt du noch, wie du mir die heiße Suppe in den Schoß gekippt hast, weil ich dich Brillenschlange genannt habe? Das war bestimmt schrecklich für dich.«
»Ja. War es.« Sie schob die Unterlippe vor.
Josh lächelte selig vor sich hin. »Das war super.« Nils‘ Blick fixierte ihn.
»Josh, trink was.« Er hielt Josh seinen eigenen Becher hin, der immer noch halb gefüllt war. Glücklich griff Josh danach. Bevor Shirley es verhindern konnte, hatte er den Inhalt in sich hineingekippt.
»Ich hol mehr Wein«, sagte Marc.
»Sitzenbleiben«, fauchte Shirley. »Ihr füllt nicht meinen eigenen Bruder ab, damit er euch verrät, mit wem ich rumgeknutscht habe!«
»Rumgeknutscht!« Nils und Marc sahen sie an, als wären sie zwei Klosterschwestern, vor denen sich ein Exhibitionist entblößte. Die Heuchler. »Mit wem hast du rumgeknutscht?«
»Ich bin fast achtzehn, ihr Pfeifen«, knurrte sie. »Ich kann rumknutschen, mit wem ich will.«
»Wir reden mit Dom«, sagte Nils und legte die Hände auf den Tisch.
»Es ist nicht Dom!«, brüllte sie.
»Es ist überhaupt kein Junge«, lallte Josh. Shirley hielt ihm den Mund zu, aber der Schaden war angerichtet. Ihre blöden großen Brüder verharrten.
»Oh, gut«, sagte Marc und atmete aus. »Noch ’ne Runde?«
»Wer ist es denn?« Wieso klang Nils jetzt wieder wie der liebe, verständnisvolle große Bruder, der er sein sollte? Und warum schaute der so erleichtert? »Kennen wir sie? Ist sie von deiner neuen Schule?«
»Nein. Und ich erzähl euch gar nichts.«
»Okay.« Nils zuckte mit den Achseln. »Du kannst darüber reden, wenn du so weit bist.«
»Warum bist du auf einmal so nett?«, fragte sie. »Was ist besser an einem Mädchen als an einem Jungen?«
»Ein Mädchen kann dich nicht schwängern«, sagte Marc. Das war immerhin logisch. »Noch mal Glühwein für alle außer Josh?«
»Hey!« Josh sah ihn strafend an und schwankte. »Ich kann so viel trinken wie ich will.«
»Nicht, wenn ich zahle.« Marc grinste. »Du kriegst ’nen Kinderpunsch.« Und schon war er in der Menge verschwunden.
»Ich geh nachher auf eine Chaletparty.« Josh sah die Tischplatte an, als wäre sie schuld an allem. »Da krieg ich Bier und Glühwein ohne Ende.«
»Aber kotz nicht auf den Küchenboden, wenn du heimkommst«, sagte Nils. »Ich hab genug davon, euch hinterherzuputzen.«
»Müsstest du nicht, wenn du dir endlich eine eigene Wohnung suchen würdest«, murrte Josh. »Wann hab ich mein Zimmer eigentlich wieder für mich? Und wieso wohnst du nicht in Henrys Chalet?«
»Das hat er vermietet und das habe ich dir schon erklärt, Saufnase.« Nils blickte auf seine Hände. Sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich. Er atmete tief ein. »Ich … also ich warte noch mit dem Suchen, bis ich weiß, wie groß meine Wohnung sein muss.«
»Wie groß … Adoptiert ihr etwa ein Kind?«, fragte Shirley.
Schmerz zuckte durch Nils‘ Züge. »Ne, ich … Ach, ist egal.«
»Ist nicht egal.« Sie packte seine Hand. »Ist was passiert? Kommt Henry an Weihnachten?«
»Er sagt, er kommt.« Nils entzog seine Hand nicht. Mit der anderen rieb er sich über die Nasenwurzel. »Ich denke, dann tut er das auch.«
»Du denkst …« Josh legte den Kopf schief und wäre fast von der Bank gefallen. »Warum sollte er nicht kommen?«
»Ich weiß nicht.« Nils kratzte sich mit der freien Hand unter der dicken Wollmütze. »Er ist … Es kam raus, dass sein Onkel ein paar schlechte Anlagen gemacht hat und … Henry meinte, er muss unbedingt vor Ort in München sein und retten, was zu retten ist. Und da ist er jetzt halt. Seit Wochen.«
»Ach, deshalb kommt er nicht mehr her.« Shirley betrachtete Nils‘ besorgtes Gesicht. »Du hast nur gesagt, er hätte noch zu tun.«
»Viel mehr erklärt er mir auch nicht«, sagte Nils. »Nur, dass er zu tun hat und alles kompliziert ist und … dass er ständig abgelenkt ist. Wir reden kaum noch. Weihnachten wird alles besser, meint er. Dann hat er das Schlimmste hoffentlich geschafft.«
»Dann ist ja gut.«
»Er kommt Weihnachten bestimmt her«, sagte Josh. »Er ist doch immer mitgekommen.«
»Ja.« Nils sah auf seine Hände. »Ich weiß nicht, ob ich mir nur blöde Sorgen mache oder ob da echt was ist. Wir haben uns gestritten, bevor er gefahren ist, wegen den blödesten Kleinigkeiten. Keine Ahnung, ob er wirklich nur gestresst ist.«
»Was soll denn sonst sein?«, fragte Shirley.
»Nichts weiter. Er würde ja nicht … Es ist nicht mehr wie früher, seit er in München ist und ich hier. Er fehlt mir.«
»Dann sag ihm das«, sagte Josh. »Oder fahr rüber, so wie früher.«
Nils räusperte sich. »Er arbeitet rund um die Uhr, um das Geld irgendwie wiederzubekommen. Als ich das letzte Mal da war, haben wir uns nur zum Essen gesehen, und dazu musste ich ihn zwingen. Er hat einfach … gar keine Zeit mehr und ist ständig nur genervt und … Ich weiß nicht.«
Shirley und Josh sahen ihn stumm an. Sie waren eindeutig die Falschen für Beziehungsratschläge.
»Ist auch nicht schlimm«, sagte Nils. Eine glasklare Lüge. Der schaute drein, als hätte man ihm einen Arm amputiert. »Das pendelt sich schon wieder ein. Und dann sehen wir weiter. Ob er wieder öfter herkommt oder … nicht.«
»Warum soll er denn nicht wollen?«, fragte Shirley.
»Na, es geht schon viel länger, als Nils dachte«, sagte Josh und sah nachdenklich aus. »Oder? Und wenn Henry sich nicht auf seinen Onkel verlassen kann, wird er dauernd in München sein müssen, um sich um die Geschäfte zu kümmern. Nils macht sich bestimmt Sorgen, dass das für immer so weitergeht.«
»Gar nicht«, brummte Nils. »Es ist bestimmt … bestimmt bald alles wieder in Ordnung.« Mist. Seinem Gesichtsausdruck nach hatte Josh genau ins Schwarze getroffen.
»Dann ruf ihn doch einfach an und frag ihn, ob er …«, begann Josh, aber er wurde unterbrochen.
Ohrenbetäubender Lärm erklang. Oh nein. Zwei abgewrackte Gestalten torkelten auf die Bühne und droschen auf ihre Akkordeons ein.
»Tach zusammen und frohen Weihnachtsmarkt!«, grölte der Blonde. Seine rote Nase leuchtete heller als die der Plastikrentiere links und rechts vom Bühnenrand. »Wir sind Didi und Waldi und zusammen sind wir Die Möbelpacker!«
»Die einzige Band aus Ebernau, die je einen Nummer-Drei-Hit in der Schlagerparade hatte!« Der Dunkelhaarige mit dem grauenvollen Schnauzer drängte seinen Kollegen zur Seite. Es hätte unmöglich sein sollen, aber er war noch besoffener als der Blonde. »Und jetzt kommt unser größter Hit: Coole Kissen!«
Das Akkordeon setzte ein. Jubel ertönte von einigen Tischen, peinliches Schweigen von anderen.
»Wenn ich dich seh, dann denk ich an ein Sofa«, grölte Waldi ins Mikro, »denn deine Kissen sind so wunderschön!«
»Coole Kissen! Coole Kissen!«, setzte Didi punktgenau ein.
Glühwein und Kinderpunsch wurden auf den Tisch geknallt. Marc nahm Platz, das Gesicht angewidert verzogen.
»Wer lässt die denn jedes Jahr raus?«, fragte er, den Blick nicht von Didi lassend, der schunkelnd über die Bühne stolperte.
»Sie sind die größte Band, die Ebernau hat«, sagte Nils und schüttelte den Kopf. Er griff nach dem Glühwein, als wäre er sein Lebensretter. Dabei trank er sonst fast nichts.
»Erbärmlich.« Marc schnaubte. »Trink deinen Punsch, Joshi.«
»Einen Scheiß mach ich.«
Und dann stritten die beiden sich, wie immer.

 

Neu: Horrorhamster (a.k.a. Ebernau 2 a.k.a. Marc)

Früher als geplant habe ich Marc und Flo auf die Welt losgelassen. 🙂 Amazon war diesmal so schnell, dass das E-Book schon eine Stunde später da war. Diesmal funktioniert alles, sogar der Blick ins Buch ist schon da. Ich bin begeistert! 🙂 Und das ist der Klappentext:

Rückkehr nach Ebernau
Marc Winter kommt mit so ziemlich allem klar. Weder seine nervige Familie noch sein peinlicher Nebenjob können ihm den Tag versauen. Denn Marc hat ein Ziel: Er will Profi-Snowboarder werden, und zwar so schnell wie möglich. Am besten sofort, aber mindestens, sobald er den Ebernau-Cup gewonnen hat!
Der Einzige, der ihm den Sieg streitig machen könnte, ist Flo, das reiche Muttersöhnchen, das seit ihrer ersten Begegnung seinen Spott abbekommt. Blöd nur, dass Marc plötzlich unerwartete Gefühle für Flo entwickelt. Noch blöder, dass Flo schon vergeben ist. Und am Allerblödesten, dass Marc beginnt, seine Karriere zu vernachlässigen, weil ihn Flo ablenkt.
Selbst Marc Winter weiß bald nicht mehr, was er tun soll. Und wie sieht es überhaupt mit Flos Gefühlen aus?

Enthält Hamster. Nein, wirklich. Außerdem dümmliche Spitznamen, alte Feindschaften und Homoerotik.

 

Und hier sind die ersten Kapitel:

1. Prolog

»Was willst du denn hier?«, war das Erste, was Marc Winter je zu ihm sagte. Flo wusste nicht, was er darauf antworten sollte.
»Ich, also …«, begann er und hatte keine Ahnung, wie er weitermachen sollte. »Kennen wir uns?«
Hellgrüne Augen durchbohrten ihn. Selbst mit dreizehn sah dieser blonde Typ schon so arrogant aus wie ein uralter englischer Lord. Alle normalen Dreizehnjährigen waren wie Flo: unsicher, ungelenk und verpickelt. Na ja, vielleicht nicht ganz so unsicher wie Flo. Er war, wie stets, ein besonders erbärmliches Exemplar der Spezies »Junge«.
»Ich weiß, wer du bist«, sagte der Blonde und schnaubte verächtlich. »Du Schwächling. Du bist ihr Sohn.«
»I-ihr …« Flo verstummte. Jeder in Ebernau wusste, wer seine Mutter war, aber normalerweise bekam er deshalb keinen Ärger. Eher Bewunderung. Seine Mutter war das Mädel aus dem Fleischhauerviertel, das den reichsten Mann der Gegend geheiratet hatte. Die härteste Arbeiterin von ganz Ebernau. Marie, die inzwischen zwölf Chalets und ein Restaurant besaß.
Flo machte einen Schritt zurück. Der Blonde folgte ihm. Flos Kniekehlen stießen gegen eine der Holzbänke, in die Generationen von Skischülern ihre Initialen gekerbt hatten. Diese Hütte hatte mehr Kerben als glatte Stellen. Die rot-gelben Banner des Wintersportvereins verdeckten die schlimmsten Macken, aber es war offensichtlich, dass die Wände so alt und verbraucht waren wie die kalte Luft. Die elf Jungs und Mädchen, die sich hier versammelten, wirkten in der Umgebung wie blankpoliert. Ihre neuen Snowboard-Anzüge leuchteten vor den dunklen Wänden.
Nur der komische Junge, der Flo anfeindete, trug eine grüne Jacke, der die Hälfte der Knöpfe fehlte. Ihr Kragen war speckig und auf dem linken Ärmel prangte ein verwaschener Fleck. Der Kerl hätte schäbig ausgesehen, wenn sein hübsches Gesicht nicht gewesen wäre. Flo war sich noch nicht zu hundert Prozent sicher, dass er auf Jungs stand. Aber er musste jetzt schon zugeben, dass dieser Idiot ein gutaussehender Idiot war. Und ein Arschloch, offensichtlich.
»Gibst du zu, dass du ihr Sohn bist?«, fragte das Arschloch herausfordernd.
Flo ballte die Fäuste. Sie zitterten. Ja, er war schüchtern. So schüchtern und scheu, dass er sich kaum traute, mit Fremden zu sprechen. Doch selbst seine Geduld hatte Grenzen. Beleidigte dieser Trottel seine Mutter?
»Hast du ein Pro-problem mit meiner Mutter?«, fragte er den Blonden. Der schnaubte schon wieder. Ein fieses Lächeln huschte über seine Mundwinkel.
»Stotterst du auch noch?« Er verdrehte die Augen. »Nur dass du’s weißt: Deine Mutter hat meiner Mutter vor siebzehn Jahren die Skiköniginnenkrone geklaut. Sie wär’s garantiert geworden, wenn deine Alte nicht mit dem Richter angebandelt hätte.«
»Was? Das, äh, höre ich zum ersten Mal.« Flo straffte sich. »Und selbst wenn, was ist das für ein blöder Grund? Das ist ewig her. Vor siebzehn Jahren waren wir beide noch nicht geboren.«
»Waren wir beide noch nicht geboren«, höhnte der Arschlochidiot. »Das ist egal. Meine Familie vergisst nie, merk dir das.«
»Deine Familie?« Flo starrte ihn an. »S-seid ihr berühmt oder so? Wieso hab ich dich dann noch nie gesehen?«
Er hörte ein leises Kichern aus der Gruppe. Er sah, dass die Ohren des Blonden einen leichten Rotton annahmen. Die hellgrünen Augen verengten sich zu Schlitzen. Hätte Flo weiter zurückweichen können, hätte er es getan. Fast rechnete er mit einem Schlag. Bebend beobachtete er die Fäuste seines Gegners, die in schäbigen Handschuhen steckten.
Aber der Idiot wirbelte herum.
»Wer hat gelacht?«, rief er. Niemand antwortete. Alle starrten ihn an.
Was für ein Psychopath, dachte Flo.
Er zuckte zusammen, als der Trottel sich ihm wieder zuwandte. Er deutete auf Flos 450-Euro-Skijacke, als könnte sein Zeigefinger Laserstrahlen darauf abschießen.
»Dich mach ich fertig«, knurrte der Blonde.
»Was?« Flo sah sich panisch nach ihrem Trainer um. Aber der stand noch vor der Hütte und besprach die letzten Kleinigkeiten mit seinem Praktikanten. Flo begann zu bereuen, dass er sich für diesen Workshop angemeldet hatte.
»Mann, guck nicht so blöd.« Der Idiot verzog das Gesicht. »Ich hau dich doch nicht. Meinst du, ich hab’s nötig, Schwächlinge zu verprügeln? Ne, da draußen mach ich dich fertig. Auf dem Board. Deine teure Ausrüstung wird dir ’nen Scheiß bringen.«
Wut brodelte in Flo hoch.
»Was ist dein Problem? Ich hab dir nichts getan. Ich … ich kenne dich doch gar nicht.«
»Wirst du aber. Mich kennenlernen, meine ich.« Der blonde Trottel grinste breit. Spitze Eckzähne funkelten. »Auf der Piste bin ich der King. Wirst schon sehen.«
»Werd ich nicht«, sagte Flo, weil ihm nichts Besseres einfiel. Dann hatte er einen Geistesblitz, endlich. »Weil … ich dich so weit hinter mir zurücklasse, dass ich dich gar nicht sehen kann.«
»Ach ja?« Das Grinsen wurde breiter. »Das finden wir gleich raus.«
»Ja. Finden wir.«
Und jetzt? Flo war keinen Streit gewohnt. Er war schließlich ein Einzelkind, verdammt! Glücklicherweise schien es das gewesen zu sein. Der Blonde drehte sich um, stapfte auf die entgegengesetzte Seite des Raums und ließ sich zwischen zwei anderen Jungs auf eine der Holzbänke fallen. Die klatschten ihn ab, als hätte er gerade irgendetwas gewonnen.
»Idiotisch«, murmelte Flo. Er kannte sich so gar nicht. Sonst war er viel zu unsicher, um sich zu zanken. Was hatte dieser Proll an sich, das ihn so wütend machte?
»Es liegt nicht an dir«, sagte ein dunkelhaariges Mädel neben ihm. Allerdings so leise, dass der Blonde sie nicht hören konnte. »Der ist immer so. Ein Volltrottel.«
»W-wer ist das überhaupt?«, fragte Flo.
»Marc Winter.«
Oh. Ja, von Familie Winter hatte er gehört. Das ließ sich in einer Kleinstadt mit Dorfcharakter nicht vermeiden, selbst, wenn man die Privatschule am anderen Ende der Stadt besuchte. Marc musste in einem der ärmeren Viertel zur Schule gehen, an einem Ort, an dem einem offensichtlich keine Manieren beigebracht wurden.
Flo schwor sich, Marc Winter Schnee fressen zu lassen, wenn er an ihm vorbeizog. Er würde ihn schlagen, ganz fair. Da draußen. Der Kerl würde nicht wissen, was ihn erwischt hatte.
Leider kam es anders. Marc Winter, der arrogante Angeber in den ärmlichen Klamotten, war der beste Snowboarder, den Flo je erlebt hatte. Es dauerte Jahre, bis er ihn einholte. Und noch länger, bis sie zum ersten Mal ein freundliches Wort miteinander wechselten.

Fünf Jahre später

2. Ein Scheißjob

»Ich würde mich so gern wieder verlieben«, seufzte seine Mutter und stützte den Kopf in die Hände.
Sie lehnte an dem mit Brotkrumen übersäten Tisch wie eine jungfräuliche Prinzessin, die gleich ein Lied über die wahre Liebe anstimmen würde, zusammen mit einem Chor aus Vögeln, Mäusen und Kaninchen. Nun, Mäuse hatten sie hier tatsächlich ab und zu. Abgesehen von denen würde sie mit Lebensmittelmotten vorliebnehmen müssen.
Gerade waren die einzigen Geräusche allerdings das Knarzen des alten Hauses und das Klappern des Geschirrs. Der Geruch von Kaffee und frischem Brot lag noch in der heizungswarmen Luft.
»Richtig verlieben, wisst ihr?«
Marc und Josh sahen sie ungläubig an. Shirley fuhr damit fort, den Tisch abzuräumen, während sie ein Buch auf dem Unterarm balancierte, in das sie vollkommen vertieft war.
»Warum?«, fragte Josh, der Spätzünder. Marc bezweifelte, dass der mit fünfzehn schon herausgefunden hatte, was Mädchen waren. »Du warst doch schon verliebt.«
»Einmal ist nicht genug«, sagte ihre Mutter und seufzte erneut. Noch prinzessinnenhafter. »Selbst zweimal nicht.«
»Wie oft denn dann?«, fragte Marc misstrauisch. »Ne, warum lässt du es nicht einfach? Nachher kriegst du dann noch so eine nervige Blage, um die ich mich kümmern muss.«
»Du kümmerst dich überhaupt nicht!«, motzte Josh. Sein sommersprossiges Gesicht drückte Unmut aus. »Die Wohnung ist ein Saustall und kochen kannst du auch nicht. Seit Nils in Köln ist, geht hier alles den Bach runter.«
»Koch du halt«, sagte Marc. »Wenn du so darauf stehst.«
»Bitte nicht«, riefen seine Mutter und Shirley im Chor.
»Ich koche super«, behauptete Josh. Marc schnaubte.
»Stimmt, die Honigzwiebeln in Marmeladensauce gestern waren scheiß-delikat.« Er würgte.
»Ich versuch’s wenigstens!«, rief Josh. Er warf die Hände in die Luft. »Und ich erledige meine Aufgaben. Du schwänzt den Putztag dauernd für dein blödes Training!«
»Hey, ich bin so knapp davor, Profi zu werden.« Marc hielt Daumen und Zeigefinger Millimeter voneinander entfernt. »Ich hab keine Zeit für …«
»Ich sagte, ich würde mich gern wieder verlieben«, drängte seine Mutter sich dazwischen. Sie räusperte sich vernehmlich. »Immer nur zuhause hocken und mich um euch zu kümmern, das ist nichts für mich. Ich bin eine leidenschaftliche Frau.«
Josh sah sie entsetzt an.
»Romantische Liebe endet stets im Desaster«, behauptete Shirley, die davon noch weniger verstand als Josh. Niemand außer Marc verstand etwas davon. Er war bestimmt der Einzige im Raum, der in diesem Jahr schon jemanden flachgelegt hatte. Hoffentlich. Er hatte keine Ahnung, was seine Mutter so mit ihren erwachsenen Skischülern trieb.
»Ach, davon verstehst du nichts, Shirley«, sagte Jennifer Winter und verdrehte die Augen. »Ich meine, natürlich stimmt das, aber … lass deiner alten Mutter doch die Hoffnung auf etwas Romantik. Auf etwas Abwechslung.«
»Du bist nicht alt«, sagten die Zwillinge pflichtschuldig. Marc schwieg. Seine Mutter war vierzig, das war schließlich uralt!
»Und wozu soll dieses Verlieben gut sein?«, fragte Marc.
Sie schnaubte leise. »Das verstehst du nicht, Kleiner. Dafür bist du viel zu egozentrisch. Sich zu verlieben, das … Also dieser Moment, wo es passiert, der Moment, in dem man seinem Traummann in die Augen sieht, das ist …« Sie überlegte. »Das ist, als würde eine Konfettibombe in einem explodieren. Boom!« Sie warf die Arme in die Luft.
»Boom!«, rief Josh, der immer für Explosionen zu haben war.
»Konfettibomben gibt’s nicht«, murrte Marc.
Seine Familie war so bescheuert. Er schüttelte den Kopf und marschierte aus der Küche. Im Bad hatte er endlich Ruhe. Unter der funzligen Deckenlampe stylte er sich die Haare, bis er noch besser aussah als sonst. Als Einziger seiner Geschwister hatte er Mamas gutes Aussehen geerbt. Nils war ein Schrank, Josh ein Bubi und Shirley hätte selbst ohne Brille wie ein Bücherwurm ausgesehen. Aber Marc war der schönste Mann von Ebernau. Mindestens.
Und er wurde immer schöner. Mit achtzehn hatte er auch den letzten Rest Babyspeck verloren und seine Wangenknochen traten klar hervor. Zufrieden betrachtete er die harte Linie des Kiefers und seine breiten Schultern. Er grinste sich in dem halbblinden Spiegel an, bis er rüde von Shirley unterbrochen wurde, die an die Tür hämmerte.
»Geh endlich zu deinem blöden Job! Ich muss aufs Klo!«
Marc ließ sich extra lange Zeit dabei, die Tür zu öffnen, und dachte sehnsüchtig an den Tag, an dem er eine eigene Wohnung haben würde. Bald. Nach dem Ebernau-Cup in zwei Wochen war alles möglich. Wenn er den gewann, waren all seine Träume in Reichweite.
»Na endlich!« Shirley schubste ihn grob zur Seite. Erstaunlich kräftig für so ein mageres Vögelchen.
»Nerv nicht, Streberschlange«, motzte er.
»Bist ja nur neidisch, Hohlkopf.« Die Tür fiel krachend ins Schloss. Der Schlüssel drehte sich quietschend.
»Auf dich?« Marc lachte höhnisch. »Ich bin bald der beste Snowboarder der Welt und du kannst froh sein, wenn ich dann noch mit dir rede!«
»Infantil bist du!«, rief sie, was immer das heißen sollte.
Marc schüttelte den Kopf und ging zurück in die Küche. Sie sah wirklich saumäßig aus. Die Wandbords, Kerzenständer und Tonfiguren waren von einer dicken Staubschicht bedeckt und die Mülleimer quollen über. Er spürte Steinchen und Brotkrumen unter den Fußsohlen. Aber wann sollten sie auch putzen? Sie alle hatten Jobs, die Zwillinge zusätzlich Schule und Marc steckte mitten im härtesten Training seines Lebens. Und im absolut dämlichsten Job, den er je gehabt hatte. Wenn der nicht erstaunlich gut bezahlt gewesen wäre, hätte er sich nie dazu herabgelassen.
»Ich hau ab«, verkündete er und winkte Josh und seiner Mutter zu, die gerade den Tisch putzten.
»Was?« Josh fuhr hoch. »Hilf gefälligst mit! Du bist mit Spülen dran!«
»Keine Zeit. Mach ich heute Abend.«
»Machst du nicht!« Joshs Gesicht war rot vor Wut. »Machst du nie!«
»Wenn du so sicher bist, kannst du dich ja drum kümmern.« Marc zuckte mit den Achseln.
»Marc Anselm Winter!« Seine Mutter stützte die Hände in die Hüften. »Du spülst, oder es gibt Ärger!«
Marc knurrte leise. »Aber der Meirle feuert mich, wenn ich zu spät komme. Willst du, dass ich meinen Job verliere?«
Ihre Miene war eine wütende Fratze unter dem roten Schopf. So würde sich bestimmt niemand in sie verlieben.
»Dann halt heute Abend«, blaffte sie. »Aber dann wirklich!«
»Ja, klar.« Marc schlenderte in den Flur und zog sich die Schuhe an.
»Marc!«
»Ja, verdammt! Dann mach ich das halt!« Würde er nicht. Heute Abend war eine Party auf dem Hang und er würde direkt nach dem Training dort hingehen. Auch wenn er nicht lange bleiben und kaum etwas trinken konnte. Training war Training und seine Karriere ging vor.
Schwungvoll warf er die Tür hinter sich zu. Nicht nur, weil er genervt war, sondern auch, weil das blöde Teil sonst nicht im Schloss blieb. Ihr Haus wurde mit jedem Jahr baufälliger. Er sah zurück auf das windschiefe, zweistöckige Gebäude. Sein Zuhause, seit er denken konnte. Und doch hätte er alles dafür gegeben, auszuziehen. Irgendwohin, wo man abends ein Mädel mitnehmen konnte. Ein schickes Apartment vielleicht. Ein Loft, ein Chalet. Weiter oben am Hang wimmelte es von den Dingern. Aber die gehörten den reichen Touristen und den paar Ebernauern, die genug Kohle dafür hatten. Flos Mutter zum Beispiel.
Marc schwang sich auf sein Fahrrad und sauste los. Der eisige Wind schlug ihm ins Gesicht. Es prickelte wie Nadelstiche. Ekelhaft. Warum zur Hölle musste er sich dazu herablassen, diesen idiotischen Job zu machen? Flo arbeitete nicht. Der hatte, genau wie er, im Sommer sein Abi gemacht. Aber soweit Marc das aus der Ferne beurteilen konnte, tat er nichts. Na, außer snowboarden. Sonst wäre er nicht so gefährlich nah an Marc herangekommen.
Wie kam das überhaupt? Seit einem Jahr waren sie plötzlich ernsthafte Konkurrenten. Wie hatte Flo soviel besser werden können, obwohl Marc ihn sonst immer besiegt hatte? Er hatte sogar den Tetramin Plus-Cup gewonnen und Marc war nur Zweiter geworden.
Leise brummelte er in seinen Schal hinein. Wut stieg in ihm auf, als er daran dachte. Heiße Wut. Dieser reiche Nichtsnutz! Alles, was der besaß, hatten seine Eltern bezahlt. Die Klamotten, die Snowboards, die Privatschule … Alles. Der musste nie durch die Kälte radeln, kaum, dass die Sonne aufgegangen war, um einen total erniedrigenden Job zu machen. Nur, damit seine Familie durch den Winter kam, ohne, dass ihnen die Heizung abgedreht wurde.
Marc kreuzte die Hauptstraße, wich zwei Porsches aus, die empört hupten und riss das Lenkrad hoch, um auf dem Bürgersteig weiterzufahren. War eh kaum einer unterwegs um die Zeit. Schwächliche Morgensonnenstrahlen brachten die vereisten Straßenlaternen zum Glitzern. Bunte Banner flatterten über ihm.
»Ebernau-Cup« stand darauf geschrieben. So ein Glück, dass der erste wichtige Wettbewerb in diesem Jahr in seiner Heimat stattfand. Nur die Qualifikation würde in Greilbergen sein, warum auch immer. Egal. Bald. Bald würde er ein Profi sein. Sein Trainer meinte, wenn er hier gewann, würden die großen Sponsoren nicht auf sich warten lassen.
Er wich drei Mülleimern aus und raste um die Ecke. Fast wäre er gegen einen gigantischen Blumenkübel gestoßen, der um diese Jahreszeit nur mit Plastiklilien gefüllt war. »Skibekleidung Hohenheim« stand in goldenen Buchstaben darauf. Er war im Touristengebiet angekommen. Abgase und teures Parfüm verpesteten die Luft. Edle Sonnenbrillen funkelten auf den Nasen der Frühaufsteher, die jetzt schon zum Lift schlenderten. Er fuhr ein wenig vorsichtiger. Jeder, den er hier umnietete, würde ihn verklagen. Hundertprozentig.
Über ihm erhob sich die schneebedeckte Bergkette. Winzige Punkte rasten herunter: Skifahrer und Snowboarder. Der gigantische Skilift sah von hier aus wie ein Spielzeug. Später würde er auch da hoch fahren. Sein Herz schlug schneller, sobald er daran dachte. Wenn er nur jetzt schon … Aber er hatte etwas zu erledigen.
Schwungvoll bog er in die Gasse neben dem Rathaus ein. Er pfefferte sein Rad in den Fahrradständer, schloss es ab, obwohl niemand das Schrottding klauen würde, und öffnete die messingverzierte Tür des Nebeneingangs. Zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte er die rot ausgelegte Treppe hoch. Er roch altes Holz, staubigen Teppich und frischgedruckte Plakate.
»Du bist zu spät!«, begrüßte Bianca ihn, als er durch die Tür kam. Aber sie lächelte. Natürlich. Frauen lächelten immer, wenn sie ihn sahen. »Der Meirle wird ganz schön sauer auf dich sein.«
»Wegen fünf Minuten?«, fragte er und marschierte zum Spind der Schande. »Wenn ich meinen Charme spielen lasse, kann ich demnächst ’ne Viertelstunde zu spät kommen.«
»Probier’s mal.« Sie lachte glockenhell. Mary fiel ein.
Sie waren zu dritt in dem fensterlosen Raum, der mit »Ebernau-Cup«-Wimpeln, Postern und Fähnchen vollgestopft war. Die beiden würden heute die letzten Plakate anbringen. Ein Job, den Marc auch gemacht hätte, wenn er nicht einen besser bezahlten gehabt hätte.
Er spürte ihre Blicke, als er sich die Klamotten vom Leib riss. Als er nur noch im Slip dastand, drehte er sich zu ihnen um. Lächelnd spannte er den Bizeps an.
»Das gefällt euch, was?« Er grinste.
Mary lief rot an, aber Bianca nickte kichernd. Die beiden waren nur ein Jahr älter als er, oder? Würden sie heute Abend auf der Party sein? Vielleicht hatte eine von denen eine eigene Bude. Einen Ort, den er nicht mit Josh teilen musste. Seine letzte Freundin hatte ihn immer in ihr Zimmer schmuggeln müssen und das war mehr als einmal schiefgelaufen.
Marc atmete tief ein und öffnete den Spind. Sofort sank seine Laune ins Bodenlose.
»Na dann«, knurrte er leise. Er vernahm schon wieder Kichern und diesmal nervte es gewaltig.
»Viel Erfolg, Hamsterbäckchen«, sagte Bianca.

Zehn Minuten später hätte er die ganze Welt erwürgen können. Schwitzend stand er in der Fußgängerzone, und versuchte, reichen Touristen Flyer anzudrehen. Flyer, die den Ebernau-Cup ankündigten. Der Cup, der ihn zum Star machen würde. Warum zur Hölle musste er dafür Flyer verteilen? Und warum musste er dieses idiotische Kostüm tragen, wenn er über ein ausgesprochen attraktives Gesicht verfügte, das bestimmt viel mehr Touris angelockt hätte? Na, zumindest Touristinnen.
»Schau mal, Annabelle«, sagte eine blondgesträhnte, braungebrannte Dame zu ihrer rosagekleideten Tochter. »Ein Biber.«
»Hamster«, brummte Marc durch das winzige Loch im Hals des Kostüms.
»Hässlicher Hamster«, sagte Annabelle und beäugte ihn misstrauisch. »Dicker Hamster.«
Selber dick, du Zwergmoppel, wollte Marc sagen. Aber er brauchte den Job. Also hielt er den beiden einen knallbunten Flyer hin. Die Frau schüttelte den Kopf, als wäre der dumme Zettel ein unanständiges Angebot und zog Annabelle weiter.
Marc schwankte weiter. In dem Kostüm bewegte er sich so schwerfällig, als wäre er morbid übergewichtig. Immer wieder drückte er Leuten Flyer in die Hand, nur, um zu sehen, wie sie sie wenige Meter weiter achtlos fallen ließen. Das Kopfsteinpflaster um ihn herum war übersät mit den Dingern.
»Ah!« Ein graumelierter Mann schrak zusammen, als Marcs pelzig-dicker Hamsterarm plötzlich in seinem Blickfeld auftauchte. »Was … Oh.«
Der Typ lachte beschämt und nahm ihm den Flyer aus der Hand. Das war das einzig Lustige an dem Job. Wenn sich jemand vor dem Horrorhamster erschreckte. Die Designer, die das mistige Maskottchen entworfen hatten, hätten die Prügelstrafe verdient gehabt. Stattdessen hatten sie einen fünfstelligen Betrag kassiert, wenn man seinem Chef glauben durfte. Super.
Marc sah seine Spiegelung im Schaufenster der Parfümerie gegenüber und unterdrückte ein Stöhnen. Ein Scheusal sah ihm entgegen: ein kugelförmiges, flauschiges Vieh mit irren Augen, einem wahnsinnigen, einzahnigen Grinsen, einem »Ebernau-Cup«-Shirt und selbstverständlich ohne Hosen. Sein Bruder Josh hatte alle Hamster-Poster, die in ihrem Viertel aushingen, mit Penissen verziert. Immerhin einmal hatte er Marc so zum Lachen gebracht.
So ein Scheiß.
»He! Hamster!«, rief eine bebrillte Frau, die ihn an seine Grundschullehrerin erinnerte. Sie winkte ihn zu ihren Freundinnen hinüber, die ihr glichen wie ein Ei dem anderen. Kurze, praktische Frisuren, Jack Wolfskin-Jacken und »fesche« bunte Riesenohrringe. Marc hätte sich am liebsten geweigert. Ging aber nicht. Er trottete zu ihnen und fand sich sofort in einer Umarmung wieder, die ihn fast zu Fall gebracht hätte.
»Los, mach ein Foto, Mechthild!«, rief die Bebrillte. Kreischen und Kichern gellten in Marcs Ohren. Zwei Frauen umarmten ihn, während die andere ein Foto machte, obwohl sie sich vor Gackern kaum halten konnte.
»Mensch, ist der aber behaart«, kreischte Mechthild und die anderen beiden knickten ein vor Lachen. Endlich ließen sie ihn los, um sich das dämliche Foto anzusehen.
»Bitte, gern geschehen«, murmelte Marc und wandte sich ab. Wie lange noch? Ach ja: dreieinhalb Stunden. Von vier. Die Zeit schlich, wenn man als Icy Joe, der lustige Snowboard-Hamster, verkleidet war.
»Netter Arsch, Hamster!«, brüllte ihm eine der Frauen hinterher. Lautes Kichern ertönte.
»Das Kompliment kann ich nicht zurückgeben«, rief er und sie waren endlich still. Hoffentlich beschwerten sie sich nicht bei Herrn Meirle.
Warum musste er diesen erniedrigenden Job machen? Warum er und nicht … Flo zum Beispiel? Der hätte sich bestimmt gefreut, wenn er sich in dem viel zu heißen Kostüm hätte verstecken können. Flo wirkte immer, als wollte er sich verstecken. Vor was auch immer. Der hatte doch alles, was er brauchte, warum schaute der trotzdem immer, als würde er gleich in Tränen ausbrechen? Na, außer, wenn er mit Marc stritt. Allerdings … Seit einem Jahr hatte Flo sich verändert. Ein wenig. Er ging aufrechter und gewann Rennen. Leider. Ob das an diesem Paul lag? Mit dem hatte Marc ihn damals gesehen. Ob …
Marc schreckte hoch. Oh! Als hätten seine Gedanken ihn herbeigerufen, schritt Flo über das Kopfsteinpflaster auf ihn zu. Wie immer hatte er den Kopf bis zur Nase in dem Schal vergraben, den er über seinem grauen Kaschmirmantel trug. Seine Wangen waren gerötet und er sah die anderen Passanten an, als befürchtete er, dass sie sich ihm böswillig in den Weg werfen würden. Aber seine Schritte waren zielstrebig. Ja, der hatte sich verändert. Die schwarzen Haare flatterten hinter ihm her, so schnell marschierte er. Dabei war die wellige Milchbubifrisur, die er trug, eigentlich zu kurz zum Flattern. Über der Schulter trug er einen dunkelblauen Rucksack.
Das war ja klar. Während Marc in seinem miesen Nebenjob litt, fuhr der feine Herr Flo in den Urlaub. Dabei war die Quali in ein paar Tagen! Ärger brodelte in Marc hoch.
»Hast du’s eilig, Muttersöhnchen?«, rief er.
Flo stolperte und konnte sich gerade noch fangen. Knapp vor Marc blieb er stehen und riss die Augen auf.
»Marc?«, fragte er ungläubig. »Warum bist du ein Hamster?«

Neuerscheinung: Diagnose: Depp – der Sammelband + Leseprobe

Endlich erleben Dario und Vincent neue Abenteuer/Katastrophen. 🙂 Seit dem 1. September ist das E-Book auf Amazon verfügbar. Das Printbuch braucht ein paar Tage länger, sollte aber auch bald soweit sein. Und das ist der Klappentext:

4 schwule Kurzgeschichten

Diagnose: Depp: Dario hat gleich mehrere Probleme: ein paar sehr peinliche Verbrennungen, einen neugierigen Zimmernachbarn im Krankenhaus und einen Krankenpfleger, der ihn nicht leiden kann. Dabei ist Vincent, der Krankenpfleger mit den meerblauen Augen, so attraktiv wie faszinierend. Schade, dass er Dario verachtet. Irgendetwas scheint er gegen den hyperaktiven Vollchaoten und Stunt-Witzbold zu haben. Aber was? Dario wird es herausfinden. Schließlich ist er kein Typ, der einfach so aufgibt!

Der Morgen danach: Dario hat es geschafft. Vincent und er sind ein Paar! Vermutlich. Also, ganz sicher ist er nicht, aber … höchstwahrscheinlich schon? Einen fatalen Anruf später sieht die Welt plötzlich nicht mehr so rosig aus. Hat er sich in Vincent geirrt?

Die Comfort Zone: Eine Schlange taucht in Darios heimeligem Beziehungsparadies auf: Bernd, sein bester Freund, der sein perfektes Leben mit Vincent in Frage stellt. Hat Bernd etwa recht? Macht Dario sich nur etwas vor? Nein. Auf gar keinen Fall. Mit Häschenohren und Glitzershorts bewaffnet zieht Dario los, um es ihm zu beweisen.

Der perfekte Antrag: Muss. Perfekt. Werden. Alles andere wäre vollkommen inakzeptabel, bei all der Mühe, die Dario sich macht. Doch als er Vincent die große Frage stellen will, überschlagen sich die Ereignisse.

Enthält: Häschenpuschelhosen, Homoerotik, Humor, Herz, heiße Liebe und schreckliche Spitznamen.

Für alle, die den ersten Teil schon haben, bringe ich die drei neuen Kurzgeschichten bald auch als Einzelbände heraus. 🙂 Allerdings kostet der Sammelband 2,99, die neuen KGs je 0,99, als spart man durch den Einzelkauf auch nur 2 Cent.

Hier ist noch eine Leseprobe, weil die auf Amazon nur bis zur Mitte des ersten Teils reicht:

Die Comfort Zone

Mein Leben ist perfekt. Ich meine, mehr als perfekt. Außerordentlich außergewöhnlich fantastisch überwältigend. Mit verdammtem Glitzerkonfetti obendrauf.
»Weißt du was?«, rufe ich aus dem Arbeitszimmer in die Küche.
»Was?«, ruft Vincent zurück und allein der Klang seiner Stimme lässt mich wohlig erschauern.
»Nur noch zwei Tage, dann sind wir seit drei Wochen zusammen!«
Schritte. Dann steckt er seinen dunklen Schopf durch die Tür.
»Du meinst, dass ich dann deine längste Beziehung aller Zeiten bin?« Er hebt eine Augenbraue. »Ich fühle mich geehrt.«
»Das solltest du«, sage ich, lehne mich im Schreibtischstuhl zurück und grinse zu ihm hoch. Entspannt präsentiere ich ihm meinen durchtrainierten Körper. Es verfehlt seine Wirkung nicht. Ein winziges Lächeln lässt seine Mundwinkel zucken und sein Blick gleitet bewundernd über meine muskulöse Brust. »Ja, du kannst richtig stolz sein, dass du so ein beeindruckendes Exemplar an Land gezogen hast.«
Leider beißt er nicht an. Er schüttelt den Kopf und das Lächeln wird breiter.
»Bearbeite mal lieber deine Fotos zu Ende, du Prachtexemplar. Das Essen ist fast fertig. Und wir haben noch fünf Folgen »Finstere Fichten« vor uns.«
»Zu Befehl, Captain Süßnase.«
Ich richte mich auf und erledige den Rest der Arbeit in Windeseile. Aus der Küche höre ich schon das dumpfe Poppen von Maiskörnern, die sich in Popcorn verwandeln. Köstliche Düfte wabern durch die Wohnung. Kochen würde ich es nicht nennen, was Vincent da tut. Aber er macht einen verdammt guten Avocado-Dip und pervers leckeres Karamell-Popcorn. Und, was das Beste ist: Er füttert mich damit. Ich kann es kaum erwarten, mit dem Kopf auf seinem Schoß zu liegen, während er mir Chips in den Mund steckt und unsere Lieblingsserie läuft.
Kurz darauf sitzen wir auf meiner breiten Couch, eng aneinandergekuschelt und küssen uns. Das Intro von »Finstere Fichten« läuft und erhellt mein Wohnzimmer. Als es losgeht, müssen wir uns endlich voneinander lösen. Zumindest unsere Münder. Ich kuschle den Kopf in seine Halsgrube und seufze leise.
Ja, so fühlt sich das Paradies an.
Leider dauert es in einem Paradies nie ewig, bis eine Schlange auftaucht. Und damit meine ich keine sexy Schlange, wie …
Ein Geräusch ertönt. Das Geräusch eines Schlüssels, der sich im Schloss dreht. Wir richten uns auf.
»Wer hat denn den Schlüssel zu deiner Wohnung?«, fragt Vincent und sieht mich erstaunt an.
»Eigentlich nur …«
Bernd platzt ins Wohnzimmer. Er ist blass. Mit weit aufgerissenen Augen glotzt er mich an und keucht. Sein Bart und sein Bauch geben ihm das Aussehen eines Bären, den man durch den halben Wald gehetzt hat.
»Gott sei Dank, du lebst«, röchelt er und legt den Kopf schief. Sein Blick wandert über Vincent und mich, den Bildschirm und die Leckereien auf dem Couchtisch. »Was ist das denn?«
»Was ist was?«, frage ich. »Was ist los?«
»Ich dachte, dir wäre etwas passiert.« Bernd stemmt die Hände in die Hüften. »Ich habe dich seit drei Wochen nicht mehr gesehen! Du warst nicht im Studio oder auf Julians Party und im Tribale oder … Du warst verschwunden! Ich hab geglaubt, du liegst hier und bist tot! Oder zumindest verletzt!«
»Oh.« Ich räuspere mich. »Hast du oft angerufen? Ich hab nicht mehr so häufig auf mein Handy geschaut, seit …«
»Dreimal!«, sagt er vorwurfsvoll.
»Das ist nicht sehr oft«, sage ich.
»Mir ist gestern erst aufgefallen, dass du fehlst«, knurrt er. »Und niemand wusste, warum. Erst dachte ich, du machst vielleicht Urlaub und hast mal wieder nicht Bescheid gesagt. Aber dann hast du überhaupt keine Fotos gepostet!«
»Tschuldigung«, murmele ich. »Aber wir waren so … Also, irgendwie haben wir uns ein bisschen eingegraben in den letzten Wochen.«
»Wir.« Jetzt erst scheint Bernd Vincent zu bemerken. »Du und … er?«
»Hallo, Bernd«, sagt Vincent.
»Du und … er?!« Bernd schaut uns an, als hätte ich mich mit einem Labrador verlobt. Was ist denn jetzt los?

Neu: Regina Mars Collection 3

Heute habe ich Sammelband 3 auf Amazon und Tolino hochgeladen. Auf Amazon kann man es sogar schon kaufen: https://www.amazon.de/dp/B074KG6B7Z/
Tolino dauert erfahrungsgemäß ein paar Tage länger, weil es eine Station mehr gibt. Tolino beliefert ja Thalia, Hugendubel, Weltbild und Co., das dauert ein wenig. Aber der Sammelband UND „2 Jahre später“ sind bald endlich überall verfügbar. Mit den drei Büchern ist es vermutlich der ernsteste Sammelband bisher. Intrigen, Mobbing, Leichen und Lindwurm-Gemetzel … ähem. Aber Humor gibt’s ja trotzdem. 🙂

Die drei Kurzgeschichten gehen ganz gut voran. Ich habe die letzte begonnen und versuche, sie morgen fertig zu schreiben. Ich freue mich schon sehr auf das Diagnose: Depp-Printbuch. Endlich mal wieder was richtig Buntes. Regenbogenbunt. 🙂 Und es wird verdammt soapig, schmalzig und so kitschig, dass ich mich fast schäme. Nach so vielen ernsten Büchern (siehe oben) brauche ich das einfach.

Schönes Wochenende!

Wordcount heute: 2.914 Wörter
Wordcount  insgesamt (Diagnose: Depp 2-4): 18.987 Wörter

Lieblingsstelle heute:
»Damals?« Bernd wirkt vollkommen überfordert. Er fährt sich durch die struppigen Haare. »Warte mal … Meinst du damals, als ihr erst drei Wochen zusammen wart?«
»Ja.« Na also. Ich nicke ermutigend. »Gut erinnert, Bernd. Damals hast du gesagt, ich soll noch ein Jahr warten, also habe ich das getan. Du bist schließlich der Experte für Anträge.«
Jules macht ein höhnisches Schmatzgeräusch. Bernd starrt mich an.
»Ach, und das hast du ernst genommen?«

Die Uferlosen: Monatsrückblick

Unser Autorenkollektiv war im Juli ganz besonders fleißig. 🙂 Hier ist eine Übersicht der Neuerscheinungen seit Monatsbeginn:

Leann Porter: Crash

Eine atomar verseuchte Welt.
Eine unbarmherzige Zweiklassengesellschaft.
Ein Rebell, der sich auf ein gewagtes Spiel einlässt.

Crash ist ein Outer, ein Verlierer im Regime der Sphere, in der die privilegierten Inners unter einer vor Strahlung geschützten Kuppel leben und die unterdrückten Outers für sich arbeiten lassen. Täglich riskiert er sein Leben bei illegalen Autorennen, um die Medikamente für seinen totkranken Bruder zu finanzieren. Angetrieben wird er von dem Traum, mit seinem Bruder zu den legendären Freien Menschen zu fliehen, die irgendwo außerhalb der Sphere leben sollen.
Ist ausgerechnet sein schärfster Konkurrent, der sein wahres Gesicht verbirgt und nur unter dem Namen Mechaniker bekannt ist, Crashs Schlüssel zur Freiheit?
Das Angebot, das der Mechaniker ihm unterbreitet, ist ebenso verlockend wie gefährlich. Crash nimmt es an und entwickelt im gemeinsamen Kampf gegen eine Intrige ungewollte Gefühle für den arroganten Inner. Kann er dem Mechaniker wirklich vertrauen, oder ist alles, was der ihm versprochen hat, nichts als eine große Lüge, die Crash das Leben kosten wird?

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Dahlia von Dohlenburg: Der Fluch des Puppenmachers

Eine verregnete Nacht auf einem Jahrmarkt.
Das düstere Zelt einer Wahrsagerin.
„Der Puppenmacher wird dich holen!“

Es ist Jahre her, dass Ben zum letzten Mal an diese Worte gedacht hatte. Und an das junge Mädchen, dem die Wahrsagerin die Prophezeiung zugeraunt hatte. Das junge Mädchen, das seine erste große Liebe war und dessen Leiche man am nächsten Tag in einem Straßengraben fand.

Die Erinnerungen kommen erst wieder hoch, als er Jamie sieht: eine filigran gearbeitete Porzellanpuppe, die dem Mädchen von damals erschreckend ähnlich sieht. Immer wieder kommt er in den Puppenladen, um Jamie zu sehen und schließlich überzeugt er den Puppenmacher Coppola, ihm die eigentlich unverkäufliche Puppe zu überlassen.

Beim ersten Sonnenuntergang muss Ben schließlich erkennen, dass es sich tatsächlich um keine gewöhnliche Puppe handelt: Jamie erwacht zum Leben. Doch das ist nicht die einzige Überraschung, denn trotz Rüschenkleid und Korkenzieherlocken ist Jamie kein hübsches Mädchen …

Amazon: http://amzn.to/2trKYZQ

 

Tanja Rast: Klosterschatz – Der Magie verfallen III

Schwer verwundet wird der Rebell Torik zusammen mit einer Handvoll Nonnen von den machthungrigen Eroberern gefasst, um in der Hauptstadt als abschreckendes Beispiel hingerichtet zu werden.

Doch während einer Rast in einer Klosterruine erscheint Torik die atemberaubende Fiebervision eines hochgewachsenen, muskulösen jungen Mannes. Verblüffend nur, dass dieses Traumgebilde die Gegner mittels einer Schaufel niedermacht und sich während Toriks Genesung als ein rücksichtsvoller vormaliger Mönch namens Livan entpuppt. Zusammen mit den Nonnen schmieden die beiden ungleichen Männer einen Plan, das Reich von dem Joch der Eroberer zu befreien. Bis Livans dunkle Vergangenheit sie einholt …

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Regina Mars: Verdammt magisch

Schwule Fantasy-Romantikkomödie
Norman, Magieschüler und Hobbyschläger, beginnt sein Studium an der Arkanen Universität in Løbago. Endlich kann er der größte Magier aller Zeiten werden! Er wird knochenschmelzende Feuerstürme beschwören, tödliche Eisregen erzeugen und zu einem absolut erstklassigen Helden werden!
Doch nichts läuft wie geplant. Und warum muss er sich ausgerechnet ein Zimmer mit Heimfried teilen? Einem schüchternen Schwächling, der sich kaum traut, seine magische Kraft anzuwenden?
Kann Norman sich mit ihm zusammenraufen? Kann aus Verachtung Freundschaft werden … oder sogar noch mehr?
+++

Verdammt magisch ist da!

Blogleser kennen die Story schon als „Magische Deppen“, also muss ich diesmal nicht viele Worte verlieren. 🙂 Norman und Heimfried sind auf Amazon gelandet und freuen sich, wenn man sie kauft. Und sie haben sooo ein schickes Cover im Gepäck! Und sogar einen Klappentext (Ich habe wahrlich weder Kosten noch Mühe gespart 😉 )
Den hier:

Norman, Magieschüler und Hobbyschläger, beginnt sein Studium an der Arkanen Universität in Løbago. Endlich kann er der größte Magier aller Zeiten werden! Er wird knochenschmelzende Feuerstürme beschwören, tödliche Eisregen erzeugen und zu einem absolut erstklassigen Helden werden!
Doch nichts läuft wie geplant. Und warum muss er sich ausgerechnet ein Zimmer mit Heimfried teilen? Einem schüchternen Schwächling, der sich kaum traut, seine magische Kraft anzuwenden?
Kann Norman sich mit ihm zusammenraufen? Kann aus Verachtung Freundschaft werden … oder sogar noch mehr?

Enthält: kindische Kalauer, heiße Homoerotik, mächtige Magie und grottenschlechte Groschenromane

Erhältlich als E-Book auf Amazon und als Printbuch in allen fast allen Webshops Deutschlands (bald, manche brauchen leider noch 1,2 Wochen).

Neues Buch: 2 Jahre später + 2 Kapitel

Mein neuer Roman ist da! Zunächst nur als eBook, aber ich arbeite am Print. Worum es geht? DRAMA!!! Okay, ein paar Lacher sind dabei. Und ein wenig Zucker selbstverständlich auch. 🙂 Hier ist der Klappentext:

Vor zwei Jahren wurden Kai und Arthur auseinandergerissen. Beide glauben, der jeweils andere sei schuld. Zwei Jahre der Verbitterung folgen. Zwei Jahre, erfüllt von Schmerzen, Veränderungen und frischen Wunden.
Nun sind sie erneut am selben Ort: einem Internat voller düsterer Intrigen und tödlicher Geheimnisse. Einem Ort, der droht, beide zu verschlingen. Es sei denn … sie finden wieder zusammen.

Ja, mein neuestes Paar hat es nicht leicht. 🙁 Wenn ihr mitleiden wollt: Das eBook gibt es auf Amazon. Falls ihr erstmal reinlesen wollt: Hier sind die ersten beiden Kapitel.
1.  Kai, 15

Kai öffnete die Tür und da stand er.
Der Gentleman.
Gepflegt, in einem perfekt geschnittenen Hemd, auf das die Sonne fein gesprenkelte Flecken warf. Seine rostbraunen Haare waren akkurat frisiert und der Seitenscheitel zog eine unverrückbare Grenzlinie durch den glänzenden Schopf.
Sofort wollte Kai sich in die eigenen Haare greifen, um sie zu ordnen. Als ob das möglich gewesen wäre. Einmal hatte er versucht, die ausgebleichten Strähnen in etwas zu verwandeln, das nicht wie ein elektrisierter Staubwedel aussah. Stundenlang hatte er sie gebürstet. Hatte nichts gebracht.
Die Augen des Gentlemans weiteten sich, als er Kai erkannte. Er erkannte ihn? Irgendwie machte das Kai ein wenig stolz. Sein Herz legte einen Trommelwirbel hin, während sich alles andere zu verlangsamen schien. Die Vögel zwitscherten gedehnter, der Wind in den Pappeln rauschte dröhnend träge und das Lächeln, das sich auf dem Gesicht des Gentlemans ausbreitete, erschien im Zeitlupentempo. Erst tauchten blitzende, gerade Zähne auf, dann tiefe Grübchen, und dann verengten sich seine Augen zu leuchtenden Schlitzen.
Er sah so schmerzhaft vollkommen aus. Wie alt mochte er sein? Kaum älter als Kai. Kaum älter als fünfzehn.
Er wurde sich bewusst, dass er den Kerl anstarrte. Aber ihm fiel nichts ein, was er sagen konnte. Sein Kopf, in dem sonst hundert Rädchen gleichzeitig ratterten, war wie leergefegt.
Zum Glück sagte der Gentleman etwas. Etwas Magisches.
»Hallo.«
Kais Knie verwandelten sich in Gelee.
2.  Arthur, 15

»Fahr schon mal vor«, hatte seine Mutter gesagt. »Wir kommen nach, sobald wir können.«
Irgendeine wichtige Besprechung mit dem Label. Arthur kannte das schon. Trotzdem konnte er nichts gegen die Leere in seinem Bauch tun. Hunger war das nicht. Das war etwas anderes. Seit er klein war, war er seinen Eltern hinterhergerannt. Erst auf rundlichen Stummelbeinchen, dann auf immer längeren. Aber sie waren nie lang genug geworden, um die beiden einzuholen. Immerzu sah er nur ihre Rücken.
Er kannte es nicht anders. Besprechungen, Termine, wichtige Meetings. Arbeit rund um die Uhr. Selbst in den Sommerferien. Selbst jetzt.
Drei Tage lang hatte er sie für sich gehabt. Klar hatten sie jede Mahlzeit durchtelefoniert, aber zwischendurch, für eine oder zwei Stunden, waren sie eine Familie gewesen.
Sie hatten ihn aus der Sprachschule, die er als Zweitbester abgeschlossen hatte, abgeholt und noch ein paar Tage in Paris verbracht. Dann wollten sie in das Ferienhaus weiterziehen, das sie im letzten Jahr gekauft hatten. Das im Schwarzwald, umringt von Bäumen und gewärmt von der süddeutschen Sonne. Heimaturlaub lag voll im Trend, behauptete seine Mutter. Urlaub zuhause waren die neuen Malediven, das sagten auch all ihre Freunde.
Aber so toll hatten sie es im letzten Sommer wohl doch nicht gefunden. Als Arthur abreisebereit die Stufen ihrer Suite herunterkam, hatten sie ihm eröffnet, dass sie sich noch um etwas kümmern mussten. Eine Besprechung halt. Wie immer.
Er war alleine geflogen, hatte alleine ein Taxi genommen, alleine einen horrenden Betrag dafür gezahlt und war schließlich vor ihrer Ferienvilla gelandet. Villa Blau hieß sie.
Der Kies knirschte unter seinen italienischen Lederschuhen, als er ausstieg. Die Nachmittagssonne wärmte seine Kopfhaut und die Ruhe hier überraschte ihn. Nach drei Tagen Paris war es beinahe unheimlich. Der Wald hinter dem Gebäude war so dicht, dass sich alle Details in Schwärze verloren.
Als das Taxi hinter ihm startete und Steinchen verspritzend abfuhr, beschloss Arthur, das Beste daraus zu machen. Das Beste daraus, dass er ganz allein hier festsaß. Vielleicht gab es andere Leute in seinem Alter. Im angrenzenden Dorf oder der nahen Kleinstadt. Vielleicht fand er in der Bibliothek ein Buch auf Französisch oder gar Tschechisch und niemand würde ihn davon abhalten, etwas derart Nutzloses zu lesen.
Vielleicht würde er den Luchs wiedersehen.
Letztes Jahr, als sie das erste Mal hier Urlaub gemacht und seine Eltern beide während des Frühstücks am Telefon gehangen hatten, hatte er ein leises Geräusch vernommen. Aus den Bäumen, die die Villa umgaben.
Der Mischwald begann direkt hinter dem hohen Holzzaun, der die Terrasse einrahmte. In einer der dichten Kronen hatte sich etwas bewegt. Fast unmerklich, aber da war eindeutig ein Geräusch gewesen.
Zwei helle Augen. In einer Eiche, umgeben von dunklem Blattwerk. Arthur war zu Stein erstarrt. Die Kaffeetasse halb zum Mund gehoben, hatte er da gesessen und den Luchs angeglotzt.
Der Luchs war natürlich kein echter Luchs, sondern ein Junge in seinem Alter. Vierzehn war Arthur damals gewesen. Ungeschickt, unsicher, auf verzweifelte Art freundlich und mit Babyspeck an Wangen und Bauch. Der Junge, der da oben auf dem Ast hockte, geduckt wie eine sprungbereite Katze, hatte keinen Babyspeck. Er war schlank, nein, mager. Ungepflegt wie ein wildes Tier, mit einem ausgebleichten Pullover und einer Löwenmähne, die nach allen Seiten abstand.
Arthur hatte ihn nur angaffen können. Er hatte noch auf den Ast gestarrt, als der Luchs längst zusammengezuckt und im Blattwerk verschwunden war. Arthur hatte ein Rascheln auf der anderen Seite des Stamms gehört, als er weggelaufen war. Über den Blätterteppich, durch den düsteren Wald. Den Wald, vor dem Arthur sich fürchtete.
Aber der Luchs hatte sich nicht gefürchtet. Der war Arthur wie eine Wildkatze erschienen, ungezähmt und … frei. Etwas an ihm ließ ein wildes Sehnen in Arthur entstehen. Ein hartes Ziehen, einen Wunsch nach … Er wusste es nicht.
Aber als er sich umgesehen hatte, auf seine Eltern geschaut hatte, die immer noch telefonierten, die gepflegte Terrasse, den Zaun, der sie umgab … Da war er sich vorgekommen wie ein fetter Welpe, der sein Leben in einer Wohnung verbracht hatte. Ein Schoßhündchen. Irgendwie war er das auch.
In den nächsten Tagen hatte er versucht, seine Furcht zu überwinden und den Wald zu erforschen, stets in der Hoffnung, den Luchs wiederzusehen. Hatte er nicht. Und immer, wenn die Villa außer Sichtweite geraten war, hatte es ihn in der düsteren Stille des Waldes gegruselt. Also hatte er jedes Mal kehrtgemacht und war zurück in die Zivilisation geflüchtet.
Aber nun war er fünfzehn. Fast erwachsen. Arthur straffte sich und sah an der verschnörkelten Fassade der staubrosafarbenen Villa empor. Riesige Hängepflanzen ergossen sich aus jedem der orientalisch anmutenden Fenster. Die waren einer der Gründe gewesen, aus denen seine Mutter das Gemäuer gekauft hatte. Sie ließen die Villa exotisch wirken, mehr als die anderen Gebäude in der Gegend. Auch der Pool im Innenhof, der mit türkisblauem Mosaik gekachelt war, trug zu diesem Eindruck bei.
Arthur holte tief Luft. Diesmal würde er sich nicht vor dem Wald fürchten. Und vielleicht würde er den Luchs-Jungen wiedersehen, wenn er sich weit genug hineinwagte.
Mit hoch erhobenem Kopf ging er auf die Eingangstür zu. Herr Petersen war da und würde ihn empfangen, hatte seine Mutter gesagt. Der Gärtner. Wenn Arthur sich so umsah, schien der den Kampf gegen das wuchernde Gestrüpp zu verlieren. Aber Herr Petersen war im letzten Jahr schon krumm und recht schwächlich gewesen, also …
Es war nicht Herr Petersen, der die Tür öffnete. Es war der Luchs.
Arthur erkannte ihn sofort. Er war größer und noch magerer geworden, aber seine Augen waren so hell wie eh und je. Und seine Haare noch chaotischer. Und der Luchs erkannte ihn. So, wie dessen Augenbrauen nach oben wanderten, wie sein schmaler Mund sich öffnete … Er erinnerte sich an Arthur! Das machte ihn seltsam stolz. Er hielt sich nicht für sehr erinnernswert. Bevor er es verhindern konnte, breitete sich ein dämliches Lächeln auf seinem Gesicht aus.
»Hallo«, sagte er.
Der Luchs schwieg einen Moment lang. Er wirkte wieder wie eine Wildkatze, bereit zur Flucht. Als könnte er jederzeit die uralte Tür zuschlagen. Oder in einem Sprung über Arthur hinwegsetzen und in den Wald türmen. Aber er blieb.
»Hallo«, entgegnete er schließlich. Seine Stimme war rau, als wäre er erkältet.
»Ich …« Arthur wusste nicht genau, was er sagen sollte. »Ich bin Arthur von Hasslach. Ich bin schon von Paris aus vorgefahren. Meine Eltern kommen nach.«
Was laberst du da für einen Blödsinn?, dachte er. Du klingst wie ein Kleinkind. Du bist ein Mann, reiß dich zusammen!
»Du bist den ganzen Weg allein gefahren?«, fragte der Luchs und legte den Kopf schief. Er schien tatsächlich beeindruckt davon, dass Arthur seinen rundlichen Hintern erst in einen Flugzeugsitz und dann in ein Taxi verpflanzt hatte.
»Keine große Sache.« Arthur versuchte, mit jeder Faser seines Seins cool zu wirken. »Ich bin auch schon von Kuba nach Berlin geflogen.«
Jetzt klingst du wie ein Angeber, du Idiot.
Der Luchs nickte bedächtig.
»Wir dachten, ihr kommt später«, sagte er. »Ich sollte gar nicht hier sein. Mein Vater kümmert sich noch um den Innenhof.«
»Dein Vater?« Erst Sekunden später brachte Arthur es zusammen. »Herr Petersen ist dein Vater?«
Der Luchs nickte wieder. Gesprächig schien er nicht zu sein. Aber er trat zur Seite und ließ Arthur passieren. Er bot sogar an, ihm mit dem Gepäck zu helfen, aber Arthur lehnte ab. Natürlich lehnte er ab. Wie würde er denn aussehen, wenn er zu schwach war, zwei Koffer die Treppe hochzuschleppen? Er gab sich Mühe, sein Keuchen zu unterdrücken, als er es bis in den Flur geschafft hatte. Dort ließ er sie zu Boden fallen und folgte dem Luchs in den nach Chlor duftenden Innenhof. Je länger er hinter dessen schmalen Rücken herging, desto mehr durchwühlte er sein Gehirn nach etwas, das er sagen konnte.
»Wie heißt du?«, brachte er schließlich heraus. Betont cool hakte er die Daumen in die Schlaufen seiner Jeans.
»Kai.« Der Luchs sah ihn an.
»A-Ach so.« Mist, hatte er das kleine Stottern bemerkt? Arthur wusste nicht, was mit ihm los war. Sein Herzschlag hämmerte in seinem Hals und er spürte den anderen Jungen, als würde er Elektrizität verströmen, durch die Luft oder so. Er schluckte.
»Hilfst du deinem Vater im Garten?«, fragte er. Der Luchs, nein, Kai, nickte.
»Ich soll nicht hier sein«, sagte er und blickte Arthur an. »Kannst du deinen Eltern nichts verraten?«
»Klar.« Arthur zuckte lässig mit den Achseln. »Aber warum? Du hilfst doch.«
»Ich bin …« Der Blonde schien zu überlegen, wie er das ausdrücken sollte. »Ich habe deine Mutter mal getroffen. Angeblich war ich nicht nett.«
»Wer sagt das?«
»Mein Vater. Und deine Mutter. Ich hab irgendwas gesagt …« Kai kratzte sich den Hals. »Ich war unhöflich. Das bin ich manchmal, auch wenn ich das nicht will.«
»Aha.«
Was sollte er darauf antworten? Egal, denn sie betraten den Innenhof. Der wurde fast gänzlich von einem römisch anmutenden Schwimmbecken mit Mosaikmuster eingenommen. Sonnenstrahlen brachten das Wasser zum Glitzern. Der Hof war zu drei Seiten eingerahmt von Wänden voll verschnörkelter Fenster und Balkone, die vor Hängepflanzen überquollen. Die vierte Seite ging auf die Terrasse hinaus, auf der Arthur damals mit seinen Eltern gefrühstückt hatte. Dort war ein gebeugter Mann damit beschäftigt, die Fugen der Bodenfliesen von Moos zu befreien. Er sah auf, als sie näherkamen. Dann sprang er förmlich in die Höhe.
»Arthur.« Er lächelte, ein wenig verzweifelt. »Ich bin fast fertig mit dem Boden. Ich schätze, morgen könnt ihr sicher hier frühstücken. Es tut mir leid, dass es etwas länger gedauert hat …«
»Lassen Sie sich ruhig Zeit«, sagte Arthur. Er sah den grauhaarigen Mann an, den er für älter gehalten hatte, als er sein konnte. Schließlich war er Kais Vater. Sie sahen sich nicht sehr ähnlich. »Ich … Machen Sie bitte genug Pausen. Meine Eltern kommen erst in ein paar Tagen nach und mir ist es egal, wie es aussieht.«
Herr Petersen nickte, scheinbar erleichtert. Er wirkte ständig, als hätte er Schmerzen. Hatte er vielleicht auch, krumm, wie er war. Kai ging zu ihm, mit der natürlichen Eleganz einer Wildkatze, aber Petersen schüttelte den Kopf.
»Ich schaff das schon alleine, Junge. Mach du doch was mit Arthur. Er ist ja ganz allein hier.«
Die Worte waren nicht so gemeint gewesen, aber sie schmerzten. Arthur war allein. Egal, denn nun wandte Kai sich zu ihm um und sein Herzschlag nahm wieder an Fahrt auf. Was sollte er sagen? Kai schwieg, also musste er etwas sagen, nur was? Es musste etwas Cooles sein, etwas total Lässiges, und …
»Zeigst du mir das Haus?«, fragte Kai.
»Hast du es denn noch nicht gesehen?« Arthur runzelte die Stirn.
»Nur den ersten Stock. Paps meint, ich soll mich davon fernhalten.«
»Du machst zu viel kaputt, Junge.« Petersen schüttelte den Kopf. »Du bist einfach zu wild.«
Ein Hauch Röte erschien auf Kais Wangen. Arthur lächelte. Nein, er durfte nicht lächeln. Er musste cool bleiben.
»Ich bin auch zu wild«, log er. »Komm mit, ich zeig dir alles.«
Ein Mini-Lächeln erschien in Kais Gesicht.
»Super.« Es wurde zu einem kleinen Grinsen, das so rasch verschwand, wie es aufgetaucht war.
»Super«, wiederholte Kai, steckte die Hände in die Hosentaschen und räusperte sich.

Arthur verbrachte die nächste Stunde zwischen Panik und überschäumender Freude. Er schaffte es, keine Miene zu verziehen, als sie durch die Bibliothek gingen. Gigantische Holzregale voll dicker Wälzer schraubten sich in die Höhe und verschlugen ihm fast den Atem. Aber er zwang sich, nur: »Bibliothek. Bücher halt« zu sagen und mit den Achseln zu zucken.
Bücher waren schließlich nicht cool. Und Kai schien derselben Ansicht zu sein. Der murmelte irgendetwas Desinteressiertes. Überhaupt sagte er wenig. Aber er wich nicht von Arthurs Seite. Er präsentierte ihm all die sonnigen Zimmer, die Eingangshalle und sein Schlafzimmer mit dem frisch bezogenen Bett. Die Haushälterin war schon dagewesen.
Er machte sich fast in die Hose, als er durch eines der Fenster aufs Dach stieg, nur, um Kai zu beweisen, wie wild er war.
»Nette Aussicht, was?«, sagte er.
Er fürchtete sich entsetzlich, aber er wollte sich vor Kai keine Blöße geben. Der kletterte wie ein Äffchen höher und stellte sich breitbeinig auf den Dachgiebel, ohne sich irgendwo festzuhalten. Arthur kriegte kaum noch Luft, als ein Wind aufkam und Kais helle Haare in sein Gesicht wehte. Der Wind roch nach Holzkohle und frisch geschnittenem Gras. Er spürte die Sonne im Nacken.
»Ich kann mein Haus von hier aus sehen«, rief Kai und grinste wieder. Seine Luchsaugen glänzten. »Guck mal, da hinten.«
Mit angehaltenem Atem krabbelte Arthur die vollkommen verrostete Leiter zum Giebel hoch. Nicht nach unten sehen, nicht nach unten sehen. Er schwang ein zu pummeliges Bein über die Ziegel, so dass er rittlings oben saß. Mehr ging nicht, wirklich nicht. Wenn er sich wie Kai hinstellte, würde er abstürzen, soviel war klar. Weit unter sich sah er den Rasen, viel zu winzig.
»Welches ist es?«, rief er gegen den Wind und hoffte, dass er nicht so bleich aussah, wie er sich fühlte.
»Das da, hinter dem roten Fachwerkhaus!« Kais magerer Finger zeigte in die Richtung. Arthur kniff die Augen zusammen.
»Wo denn? Ich sehe nur diese Bruchbude mit dem löchrigen Dach …« Mist. Mist! Kais helle Augen schauten ihn an. Blinzelten. Arthur kippte fast um, so hastig richtete er sich auf. »Äh, ich … Ich meine … Das sieht … Das ist nicht …«
Mistmistmist, jetzt war er ein Arschloch und uncool und …
Kai lachte.
»Schon gut«. Er schüttelte den Kopf »Ich weiß selbst, was für ein Schuppen das ist. Aber meistens regnet es nicht rein und wir haben auch keine Ratten. Ist denen wohl zu zugig.«
»Äh, ich …« Arthurs Gehirn ließ ihn im Stich. »Echt?«
»Ja.« Kai nickte ernsthaft. »Die letzten haben uns beim Auszug einen Beschwerdebrief geschrieben, weil wir zu sehr stinken. Eingebildete Viecher.«
Ein Kichern drang aus Arthurs Kehle, voll unmännlich.
»So schlimm riechst du gar nicht«, murmelte er. Er spürte das kleine Lächeln, das seine Mundwinkel kräuselte. »Aber vielleicht steht der Wind auch günstig.«
Kai schnaubte. »Als ob du das merken würdest, du Snob. Du müffelst doch zehn Meilen gegen den Wind nach Parfüm.«
Arthur wollte schon an seinem Kragen schnuppern, als er das Glitzern in Kais Augen erkannte.
»Was verstehst du denn von Parfüm?« Er hob eine Augenbraue. »Hast du überhaupt schon mal ein Bad von innen gesehen?«
»Klar, in einem IKEA-Katalog. Mit denen decke ich mich nachts zu, wenn es zu sehr regnet.«
Arthur lachte, als wäre es das Witzigste, was je jemand gesagt hatte. Aber irgendwie kam es ihm so vor. Er entspannte sich immer mehr.
Während sie vom Dach kletterten, erfanden sie munter Geschichten von Kais angeblicher Armut und Arthurs Dekadenz. Als Arthur behauptete, er würde sich mit Blattgold den Arsch abwischen und mit Diamantstaub nachpudern, wäre Kai vor Lachen fast vom Dach gefallen.
Irgendwie schafften sie es, heil zurück in den Innenhof zu kommen. Herr Petersen packte gerade sein Werkzeug zusammen. Kai schoss praktisch auf ihn zu, um ihm die Arbeit abzunehmen. Der alte Mann (der nicht so alt war, wie er wirkte) war grau im Gesicht.
»Ich trag das zum Auto«, sagte Kai und Arthur erinnerte sich an die Rostlaube, die er in der Einfahrt gesehen hatte.
»Ich helfe dir.«
Irgendwie wollte er nicht, dass Kai und sein Vater schon gingen. Vor allem Kai … Aber Arthur konnte ihn schlecht fragen, ob er blieb, oder? Auch wenn der Gedanke, ganz allein in dem riesigen Gebäude zu übernachten, umgeben von düsterem Wald, ihm eine Gänsehaut verursachte. Also schleppte er einen Rechen zu dem grünen Transporter.
»Arthur«, sagte der Alte. »Kommst du hier zurecht?« Sein wettergegerbtes Gesicht drückte eindeutige Zweifel aus. »Du weißt schon, so ganz alleine?«
Arthur warf Kai einen Seitenblick zu und richtete sich zu seiner vollen Größe auf.
»Na klar«, sagte er lässig. »Der Kühlschrank ist ja voll und das Bett gemacht. Ich hab doch keine Angst im Dunkeln oder so.«
Er hatte panische Angst im Dunkeln, immer noch.
»Wenn du meinst …« Der Alte zögerte. »So olle Gebäude können nachts komische Geräusche machen. Das ist ganz normal, hörst du? Du musst dich da nicht fürchten.«
»Ich?« Arthur versuchte, die Gänsehaut aus seinem Nacken zu vertreiben. »Ich fürchte mich doch nicht, ich … Das ist total … spannend.«
»Das stimmt.« Kai nickte. »Ich würde gern mal in so einem alten Gruselkasten pennen.«
Hoffnung stach in Arthurs Herz.
»D-dann bleib doch hier.« Mist, wieder gestottert. »Du kannst hier schlafen, wenn du willst. Äh, wenn du dich traust.«
»Klar trau ich mich.« Kai sah ihn spöttisch an. »Ich hab keine Angst vor den paar Untoten im Garten.«
»Den Unto…« Arthur schnaubte. »Witzig. Ich wette, du kommst nachts rübergeschlichen, wenn du Schiss kriegst. Ich wette, du … du heulst vor Angst, sobald das Licht ausgeht.«
»Und du, puller dich nicht ein, Fettsack, weil …« Kai wurde von seinem Vater unterbrochen, der ihm einen strengen Blick zuwarf. »Wieder zu unhöflich?«, fragte er und schien wirklich erstaunt.
»Ja.« Herr Petersen seufzte. »Aber irgendwann kriegst du es schon noch hin.«
»Mir macht das nichts aus«, behauptete Arthur und es stimmte fast. Bemerkungen über sein Gewicht taten ihm immer weh, aber … na ja, er hatte Kai ja auch geärgert.
»Gut, dann lass dich nicht von dem Kleinen nerven«, sagte der Alte und öffnete die Tür des Wagens. »Er meint es nicht so. Findet nur manchmal das richtige Maß nicht.«
Kai sah zu Boden, als sein Vater ihn »Kleiner« nannte. Fast schien es, als würden seine Ohren ein wenig rot. Aber sein Gesicht war ausdruckslos.
»Mach’s gut, Kleiner. Ich bring dir morgen frische Unterwäsche mit. Und du kannst mir beim Rasenmähen helfen.«
Kai brummte etwas Unverständliches.
Der Transporter fuhr ab, der Kies knirschte, der Motorenlärm verklang und sie waren allein. Arthur biss sich auf die Lippen, um ein nervöses Seufzen zu unterdrücken. Er kapierte nicht ganz, was mit ihm los war. Kai stand direkt neben ihm, so dicht, dass er seine Wärme zu spüren glaubte. So dicht, dass sein Geruch nach Seife und Motoröl in Arthurs Nasenlöcher drang.
»Was jetzt?«, fragte Kai. Als ob Arthur das gewusst hätte. Ihm musste etwas total Cooles einfallen, sofort, etwas, das ihn wie einen Rebellen wirken ließ, der …
Oh, richtig.
»Schauen wir mal, was die Bar hergibt?«, fragte er und freute sich, dass Kai überrascht wirkte.
Ich bin ein Genie, dachte er.